© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
"Forum der Verwirrung"
Der Theologe Georg May über den 94. Deutschen Katholikentag und die Auflösung des katholischen Glaubens
Moritz Schwarz

Herr Professor May, am vergangenen Sonntag ging der 94. Katholikentag zu Ende. Wie bewerten Sie das Treffen?

May: Der Katholikentag stellt sich mir weithin als ein Forum der Verwirrung und ein Tummelplatz der Gegenkirche dar. Die Verwirrung in der Kirche hält an. Die Hirten der Kirche sind nicht mehr Herr der Lage. Die Einheit im Glauben und die Sittenlehre sind weithin zerbrochen. Was aber am Katholikentag hätte geschehen sollen, das ist nicht geschehen – nämlich: Aufbau des Glaubens, Stützung im sittlichen Kampf, Förderung der Frömmigkeit, Ermutigung zur Verteidigung der Kirche. Man hätte auf dem Katholikentag auch auf vergessene Tugenden hinweisen sollen, wie Vaterlandsliebe, eheliche Treue, Kinderfreudigkeit der Ehepaare.

Was verstehen Sie unter Gegenkirche?

May: Unter Gegenkirche verstehe ich jene, die sich der Glaubenslehre, der Sittenlehre und der Disziplin der von Gott verordneten Kirche widersetzen.

Sie meinen also Aktionen der Laien, wie die "Kirche von unten"?

May: Zur Gegenkirche zähle ich keineswegs nur Laien, die Laien sehe ich vielmehr oft als Opfer irregeleiteter Theologen. Es stehen sich nicht Amtskirche und Kirchenvolk gegenüber, sondern unfähige und feige Hirten sowie irregeleitete, orientierungslos gewordene Christen auf der einen Seite und einzelne tapfere und kampfesmutige Bischöfe sowie treue Gläubige auf der anderen Seite.

Aber Diskussion und Einmischung der Laien muß doch im Namen einer lebendigen Kirche gewünscht sein?

May: Ja, doch diskutieren kann man nur über Dinge, die diskussionsfähig sind. Was der Diskussion entzogen ist, das kann man nicht diskutieren, wenn man nicht die Absicht hat, es zu Fall zu bringen. Und das eben geschieht. Heute wird so lange über Gegenstände, die nicht mehr der Diskussion unterliegen, diskutiert, bis diese Dinge in der Meinung der Masse als obsolet gelten.

Das heißt, in der Vergangenheit waren, anders als heute, gewisse Grundsätze der Diskussion entzogen?

May: Bis in die fünfziger Jahre hinein kamen die Katholiken zusammen, um sich gegenseitig im Glauben zu stärken, um über Strategien für die Durchsetzung des Evangeliums in der Welt zu diskutieren, um sich in der Treue zur Kirche zu festigen. Erhebende Gottesdienste wurden abgehalten, und es wurde die Einheit zwischen Klerus und Volk demonstriert.

Verzeihen Sie, aber das klingt ein wenig nach Parteitag. Gab es denn damals tatsächlich auch die Einmischung der Laien?

May: Aber selbstverständlich. Denken Sie nur an den Laien Adenauer, der gegen den Kardinal Faulhaber auf dem Münchner Katholikentag vehement die Weimarer Republik verteidigte.

Warum hört man solche Kritik auf dem Katholikentag nicht?

May: Die Katholikentage von heute sind ein Spiegelbild des Zerfalls in der Kirche. Was in der Kirche an irrigen, irregeleiteten Bewegungen und Strömungen existiert, das wird auf dem Katholikentag gewissermaßen gebündelt. Denn dort kommen die Superlaien und die Berufslaien zusammen, jene, die sich wichtiger nehmen, als sie in Wirklichkeit sind, und die sich dadurch profilieren, daß sie gegen die Lehre und gegen die Disziplin der Kirche ausschlagen. Die Verantwortung für diese Lage liegt bei dem Zentralkomitee. Diese Leute, etwa der Präsident Prof. Meyer, sind daran interessiert, daß konservative Theologen, die vorbehaltlos hinter Papst und Kirche stehen, auf dem Katholikentag kaum oder höchstens am Rande zu Wort kommen. Sie laden nur Leute ein, von denen sie wissen, daß sie in das progressistisch-modernistische Horn blasen.

Der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Bischof Lehmann, war eingeladen. Wie beurteilen Sie ihn?

May: Bischof Lehmann halte ich nach so langer Tätigkeit als Vorsitzender für einen verbrauchten Kirchenpolitiker. Er sollte sich so bald wie möglich zurückziehen und endlich beginnen, in seiner eigenen Diözese Seelsorge zu betreiben. Der Mann ist doch völlig seelsorgefremd. Ich meine die eigentliche, die stille und unauffällige Arbeit an den Menschen. Auch das prophetische Zeugnis geht ihm ab.Ein wirkliches, tapferes, mutiges Widerstehen gegen unselige Zeiterscheinungen habe ich bei ihm so gut wie nie gefunden.

Woher kommt diese von Ihnen diagnostizierte Schwäche ausgerechnet der Bischöfe?

May: Die Bischöfe, die aus dem Professorenstand zum Bischofsamt gekommen sind, sind meines Erachtens die unglücklichsten von allen Bischöfen. Sie sind Gefangene ihrer ungenügenden Theologie, Gefangene auch der Kollegialität mit den früheren Universitäts-Kollegen. Von ihnen ist ein offenes und klärendes Wort am allerwenigsten zu erwarten. Sie sind nicht durch die Schule der Seelsorge gegangen. Es fehlt ihnen das stundenlange Beichtehören, das Umgehen mit den Menschen, die Fürsorge für die Menschen, sie zu betreuen, die Ängste und Nöte ernst zu nehmen. Das formt den Hirten. Da wird man viel verantwortungsbewußter und kann, wenn notwendig, auch viel mutiger einstehen.

Ein Drängen der Laien auf dem Katholikentag richtete sich auf die Überwindung des Übels der Kirchenspaltung. Es scheint dabei ohne Rücksicht auf die eigene Überzeugung vorgegangen zu werden, so daß Zweifel aufkommen, ob überhaupt eine ernsthafte konfessionelle Überzeugung besteht. Das eigenmächtig und vorpreschend ökumenisch gefeierte Abendmahl auf dem Kirchentag fand dann gar auch die Kritik Bischof Lehmanns.

May: Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die, die sich nicht genug tun können, Protestanten zu umarmen, dieselben sind, die ihre katholischen Mitchristen ausgrenzen und als Fundamentalisten diffamieren, bloß weil sie am Glauben nicht rütteln lassen.

Spielt für diese Leute das Katholische noch eine Rolle?

May: Ich würde sagen, daß es bei ihnen gewisse Restbestände des Katholischen gibt, an denen sie noch interessiert sind. Aber sie haben wesentliche Inhalte von Glauben und Sittenlehre der Kirche aufgegeben und schwimmen weitgehend in heterodoxem Fahrwasser.

Aber die Kirchenspaltung ist ja nun ein Unglück für alle Christen. Wie kann sie überwunden werden?

May: Ich halte es für ausgeschlossen, die Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten durch Lehrgespräche zu überwinden. Die Positionen sind derart gegensätzlich, daß, wenn die Denkgesetze in Kraft bleiben sollen, ein Ausgleich unmöglich ist. Es geht hier nicht um "versöhnte Verschiedenheit", wie oft gesagt wird, denn Verschiedenheit, die aus Gegensätzen besteht, kann nicht versöhnt werden. Ich halte nicht mehr für möglich, als daß man sich in Achtung und gegenseitiger Liebe begegnet. Es gibt eine Ökumene im praktischen Leben, aber es gibt keine Ökumene in der Wahrheit. Einheit ohne Wahrheit ist ein unmögliches Ding. Zusammenarbeit, wo sie möglich ist, im bürgerlichen Bereich, im politischen Bereich, im kommunalen Bereich. Achtung voreinander, auch Liebe, Hilfsbereitschaft, das sind selbstverständliche Pflichten, die man den Christen nicht genug einschärfen kann. Eine irgendwie geartete Einheit in der Lehre ist nach meinem Dafürhalten ausgeschlossen.

Das heißt, wer vorrangig die Wiedervereinigung will, legt in Wahrheit die Axt an die Wurzel des Katholizismus?

May: Und der Lehre von Martin Luther! Denn der schwärmerische Ökumenismus ist die Axt an der Wurzel jeder wahrhaftigen Überzeugung.

Es handelt sich also weder um wahren Glauben noch um wahre Aussöhnung, sondern um eine zeitgeistige Versöhnungsideologie?

May: So ist es. – Das sei "Tintenfisch-Ökumenik", sagt beispielsweise der protestantische Theologe Jörg Baur; hier werden Nebel verbreitet, wie bei Tintenfischen, die verdecken sollen, was tatsächlich da ist, nämlich den weiterbestehenden Dissens. Ich habe die Veröffentlichungen der evangelischen Theologen gelesen. Sie sind von einer Schärfe, die nicht leicht zu überbieten ist.

Eine andere unterschwellige Frage des Katholikentages ist die Stellung des Papstes. Er wird immer wieder erheblich kritisiert. Hat der Papst überhaupt noch das Vertrauen der Mehrheit der Gläubigen?

May: Das Vertrauen zum Papst ist bei der Mehrheit der praktizierenden Katholiken unerschüttert. Wenn der äußere Eindruck ein anderer ist, dann ist das darauf zurückzuführen, daß die gläubigen, praktizierenden katholischen Christen in den Medien fast keine Stimme haben. Selbstverständlich sind Vertrauen und Gehorsam gegenüber dem Papst für die katholische Kirche konstitutiv. Ohne das Funktionieren dieser Haltungen löst sich die Kirche auf. Jedoch, daß die Masse der katholisch getauften, aber nicht praktizierenden Christen, die der Kirche entfremdet sind, den Glauben verloren haben und dem Papst mit Mißtrauen gegenüberstehen, das würde ich ohne weiteres konzedieren.

Was aber ist mit jenen Gläubigen, die einen Widerspruch empfinden zwischen den Worten des Papstes und dem Ruf des eigenen Gewissens. Als Katholiken schulden sie dem Papst Gehorsam, als Christen aber doch ihrem Gewissen?

May: Wenn das Gewissen gebietet, gegen den Papst zu stehen, dann muß man dem Gewissen gehorchen. Wenn das Gewissen nach ernsthafter Prüfung sagt, ich kann diesem Befehl des Papstes nicht gehorchen, dann muß der Christ seinem Gewissen folgen. Nun muß man allerdings dazu sagen, es ist ja gerade die Eigenart des katholischen Gewissens, daß es sich grundsätzlich an die Weisungen von Papst und Kirche gebunden weiß. Deswegen ist man ja Katholik, um nicht, wie der Protestant, sich selbst den Weg zu suchen, indem man die Heilige Schrift durchforscht, sondern indem man auf das Lehr- und Hirtenamt der Kirche hört. Wenn es dann trotzdem zu einem Dissens kommt, dann ist das ein irriges Gewissen, aber auch dem irrigen Gewissen schuldet der katholische Christ Gehorsam.

Das kann aber dazu führen, daß er die katholische Kirche verlassen muß?

May: Das haben ja so manche getan, die übergetreten sind, etwa zum Buddhismus oder Protestantismus. Man muß annehmen und hoffen, daß sie einem Gewissensspruch gefolgt sind.

Wenn man sich in Anbetracht Ihrer Ausführungen die gegenwärtigen Tendenzen in der katholischen Kirche vor Augen führt, so bewegt sie sich doch auf eine gewaltige Zerreißprobe zu?

May: Das ist seit langem der Fall. Die Kirche ist seit mindestens dreißig Jahren immer mehr in Turbulenzen geraten. Man hat den Anfängen nicht gewehrt. Wer das kleine Feuer nicht löscht, der bekommt den großen Brand. Es hat zunächst scheinbar harmlos angefangen mit Verfehlungen gegen liturgische Gesetze. Man hat es hingenommen. Man ist weiter geschritten zur Ablehnung der kirchlichen Moral, denken Sie etwa an die Lehre von der Empfängnisverhütung. Dann die Ablegung kirchlicher Glaubenslehren, wie es uns etwa Hans Küng lehrt.

Worin wird das münden?

May: Ich rechne damit, daß die Anhänger jener Strömungen, die ich vorhin beschrieben habe, die die Dogmen zur Disposition stellen, die die Einheit ohne Wahrheit erzwingen wollen, die den Papst mißachten, eines Tages die Kirche verlassen und zum Protestantismus oder Atheismus übergehen werden. Spaltung hat es häufig in der Kirche gegeben. Aber die Spaltung von heute geht viel tiefer und weiter. Sie ist durch irrlehrende Theologen, ich sagte es bereits, erzeugt, durch schwache und feige Bischöfe nicht verhindert und durch einen zögernden Papst auch nicht rückgängig gemacht worden.

Besteht nicht auch Möglichkeit einer katholischen Gegenkirche "von unten"?

May: Das ist deshalb unmöglich, weil es nur eine katholische Kirche geben kann, und deren konstituierendes Moment ist der Papst. Natürlich kann man sich angesichts der Religionsfreiheit katholisch nennen, ohne es zu sein, aber die äußeren Bedingungen für eine solche, institutionell verfestigte Gegenkirche sind einfach nicht vorhanden.

Können Sie auch Ihre Papstkritik einmal zusammenfassen?

May: Mir hat einmal ein römischer Kardinal, ein papsttreuer Kardinal, gesagt, der Papst verstehe nicht zu regieren. Er wollte damit ausdrücken, der Papst hat Charisma, um Menschen zu begeistern, aber zum Regieren gehört mehr. Der Papst tut zwei Dinge. Er reist und er redet. Aber Reisen und Reden ersetzen Regieren nicht. Regieren heißt zum Beispiel vorauszuschauen. Regieren heißt, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Regieren heißt, Bischöfe, die ihrem Amt nicht gewachsen sind und der Kirche offensichtlich Schaden zufügen, abzusetzen. Der Papst laviert und finassiert. Er berauscht sich an Fassaden, die da aufgerichtet werden mit Hunderttausenden und Millionen von Gläubigen, die ihm zujubeln, aber er schaut nicht dahinter. Stets ergreift er nur halbe Maßnahmen, führt sie nie zu Ende.

Dennoch aber leisten Sie ihm Gehorsam?

May: Der Gehorsam bleibt davon unberührt. In allem, wo der Papst rechtmäßig gebietet, muß man als katholischer Christ ihm folgen.

Wie würden Sie den Papst kirchengeschichtlich einordnen?

May: Der Papst ist ein Nachfolger von Paul VI. Dessen unmittelbarer Nachfolger zählt nicht, weil er nur dreißig Tage regiert hat. Und unter Paul VI. hat diese weiche Welle begonnen: Es hat die Nachsicht gegenüber Exzessen angefangen, man hat den "vorauseilenden Gehorsam" honoriert und Positionen geräumt, die vor Jahrzehnten unaufgebbar erschienen.

Aber hat man nicht mit der "weichen Welle" versucht, auf die Lebenswirklichkeit der Menschen von heute einzugehen, um überhaupt noch verständlich und in Kontakt mit den Menschen zu bleiben?

May: Die Menschen von heute brauchen nichts dringender als eine Institution, die sich nicht dem Trend der Zeit beugt, sondern davon unberührt und unerschüttert steht. Die Kirche schuldet den Menschen die Festigkeit im Glauben, sonst läßt sie sie alleine. Macht die Kirche aber Konzessionen, werden sie immer mehr verlangen. Das ist eine alte Erfahrung. Die Menschen werden nicht ruhen, bis sie der Kirche alles das abgezwungen haben, was ihren Lebensgenuß stört: die Aufgabe der schwer verständlichen Dogmen, die Preisgabe von harten und tief ins Leben einschneidenden Sittenlehren, die Aufgabe von hohen, aber sehr schwer zu verwirklichenden Werten, bis die Kirche leer und verbraucht ist. Dann aber werden sie sich erst recht enttäuscht von ihr abwenden, weil sie ihnen, belanglos gefällig, nichts mehr sagt.

 

Prof. Dr. Georg May geboren 1926 in Liegnitz/Schlesien. 1951 wurde er zum katholischen Priester geweiht. Bis zu seiner Emeritie-rung 1994 lehrte er an den Universitäten und Hochschulen von München, Freising und Mainz. Seit seiner Weihe ist er bis heute seelsorgerlich tätig.

Auswahl aus den Veröffentlichungen: "Interkonfessionalismus in der deutschen Militärseelsorge 1933-45" (B.R. Grüner Verlag, 1978), "Ludwig Kas. (Führer der deutschen Zentrumspartei 1930-33)", 3 Bände (B.R. Grüner Verlag, 1981/2), "Einführung in die kirchenrechtliche Methode" (Pustet, 1986), "Die alte und die neue Messe" (Verlag Una Voce Deutschland, 1991), "Kirchenkampf oder Katholikenverfolgung?" (Christiana Verlag, 1991)

 

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