© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
Schritte in die Fremde
Vom Pathos der ersten Sätze oder Die Angst des Autors vor dem Anfangen
Silke Lührmann

Fiktionale Welten sind Alternativentwürfe zu dem, was jeweils ist – Welten, die sein könnten; Topographien menschlicher Sehnsüchte. Hier ist machbar, was sagbar ist. Die Grenzen des Möglichen ziehen sich entlang den Regeln der Grammatik und den Konditionen des Vertrages, mit dem sich Autor und Leser darauf einigen, wie Geschichten zu lesen seien.

Anstelle der oft unüberschaubaren Kontingenz der wirklichen Welt, anstelle der Heideggerschen "Geworfenheit", anstelle gottgewollter, schicksalhafter Fügung, anstelle naturgegebener wie menschgemachter Kausalzusammenhänge und Machbarkeitsschranken, anstelle existentialistischer Handlungsfreiheit herrscht ein einfaches Gesetz totaler Willkür: "Weil der Autor es so wollte." Ein Autor kann es gut meinen mit seinen Kreaturen, oder aber er kann seinen sadistischen Fantasien ungezügelt Lauf lassen und einen Schicksalsschlag auf den anderen türmen, als wäre er Gott über eine Welt voller Hiobs: In jedem Fall hat er eine einmalige Verfügungsgewalt, eine Kontrolle, von der wir im wirklichen Leben höchstens träumen dürfen.

Ein Autor kann sich tarnen, mit den Konventionen Katz und Maus spielen oder gar vertragsbrüchig werden; abdanken kann er nie, bis das letzte Wort geschrieben ist. Sonst stirbt ihm seine Schöpfung ab: Ohne seine Pflege verwelkt der künstliche Garten, und weder Schimären noch Einhörner noch echte Kröten können darin gedeihen. Kein Wunder, daß der amerikanische Erfolgsautor John Irving ("Garp und wie er die Welt sah") eine moralische Verantwortung auf sich lasten sieht, seine Charaktere solange wie möglich am Leben zu halten! Kein Wunder auch, daß er sich dieser Verantwortung oft entledigt, indem er sie auf groteske Art ums Leben kommen läßt ...

Am Anfang war dabei immer das Wort, und die Hoffnung, daß es Fleisch wird. Der erste Satz einer Geschichte ist der alchemistische Moment, in dem dem Autor dieses Wunder des Urknalls gelingen muß. Das ist der Grund, daß erste Sätze so oft mit Selbstzweifeln kokettieren oder sich auf Anfänge schon gemachter Welten berufen.

Modischen Fiktionstheorien zum Trotz, die von dem Tod Gottes in triumphierender Folgerichtigkeit auf den des Autors schließen und – zeitgeistgefällig wie "demokratisch" – die Konsumenten über den Schaffenden stellen, indem sie behaupten, die Welt eines Textes entstünde erst während des Lesens, wobei dem Autor bestenfalls der Rang eines "ersten Lesers" zukommt: Der erste Satz einer Erzählung ist immer auch der Zugang zu der imaginär angereicherten und sprachlich gefilterten Lebens- und Denkwelt eines anderen Menschen – ein Schritt in die Fremde, mit dem man den Horizont des schon Gewußten zunächst verläßt und dann erweitert. Man muß wie Alice bereit sein, seinen Lebensalltag zu unterbrechen, um dem Weißen Kaninchen in sein Loch hinab zu folgen.

Mutatis mutandis gilt dies für den Leser wie für den Autor, der sich aus sich selbst hinaus- und in seine Figuren hineinschreiben muß. Allein gelassen vor der Leere eines weißen Blatts Papier oder einem ungeduldig blinkenden Strich auf dem Computerbildschirm, begibt er sich in unerschlossene Wüstenregionen. Wenn er den ersten Markierungsstein setzt, weiß er nicht, wohin seine Worte ihn führen werden. Dem Leser hinterläßt er Spuren, die den Brotkrumen Hänsel und Gretels gleich anfällig sind für mißverstandene Intentionen. Längst nicht jeder Autor legt seine Karten so offen auf den Tisch wie Bret Easton Ellis, dessen berüchtigter Roman "American Psycho" mit der Warnung beginnt: "Laßt alle Hoffnung hinter Euch, die Ihr hier eintretet!" und der den Leser auch mit dem allerletzten Satz keineswegs aus dem sorgfältig errichteten Sprachgefängnis entlassen will: "Hier kein Ausgang!"

Ganz anders der Zirkel, den das Märchen beschreibt. Die Floskel am Anfang nimmt das glückliche Ende schon vorweg: "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." Gleichzeitig baut "Es war einmal ..." dem Leser einen cordon sanitaire: einen Sicherheitsabstand, aus dem heraus er die haarsträubenden Geschehnisse verfolgen kann. Einem solchen Erzähler kann man sich in der Gewißheit anvertrauen, daß er die Geisterbahn, in die er uns einlädt, nicht entgleisen lassen, sondern sie souverän zum hellerleuchteten Ausgang steuern wird. Seine Pfade mögen noch so verschlungen sein, aber sie führen nicht in den Dschungel, sondern durch ein sorgfältig angelegtes, vielbesuchtes Labyrinth.

Das Märchen erinnert uns auch daran, daß wir den Fortlauf der Handlung zwar vorausahnen, erraten, niemals aber in sie eingreifen können, so sehr wir Schneewittchen auch vor dem Apfel warnen oder Anna Karenina den Selbstmord ausreden möchten. Wenn der Leser seine Reise antritt, ist sie schon beendet; über das Schicksal der Charaktere ist unwiderruflich entschieden. So tränkt der erste Satz den Rest des Siebziger-Jahre-Bestsellers "Love Story" mit Trauer: "Was kann man sagen über ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren, das gestorben ist?" Erich Segal paraphrasiert hier eine schon von Walter Benjamin zitierte Beobachtung: Ein Mann, von dem wir wissen, daß er jung – genau gesagt: mit 35 Jahren – gestorben ist, wird für uns sein ganzes Leben lang ein Mann gewesen sein, der mit 35 sterben wird. Eine tragische Figur also. (Wem das nicht einleuchtet, der sei – generationsbedingt – an die Mythenbildung um John F. Kennedy oder Lady Diana erinnert.)

Herman Melville dagegen signalisiert in einem der wohl berühmtesten Auftakte der Literaturgeschichte überhaupt, daß sein Protagonist die Tragödie überleben wird – und daß seine Version der Geschichte keine zuverlässige sein kann, ist er doch nicht einmal bereit, uns seinen wahren Namen preiszugeben: "Nennt mich Ismael." Kurz, prägnant, packend – schon mancher Leser hätte sich gewünscht, der Rest von "Moby Dick" hielte, was dieser erste Satz verspricht. Ganz anders wiederum die emphatische Beschwörung, mit der Max Frischs "Stiller" beginnt: "Ich bin nicht Stiller!"

Mag sein, daß der erste Satz des Lesers längst nicht mehr identisch ist mit dem ersten Satz des Autors, weil dessen Expedition ihn inzwischen weitab von seinem ursprünglichen Ausgangspunkt geführt hat. Mag sein, daß sein eigener erster Satz inzwischen am Ende des fertigen Textes steht oder sich bescheiden irgendwo zwischendrin verbirgt. Mag sein, daß er ihn getilgt oder überschrieben hat, weil, wie Martin Walser schreibt, dem "Pathos des Anfangens (...) kein Anfangssatz entsprechen" kann. Diesem Pathos kann man sich zu entwinden versuchen, indem man mittendrin anfängt, durch die Hintertür in die Geschichte schleicht und so tut, als kennte auch der Leser sich schon aus in dieser neuen Welt: "Wir saßen an unseren Aufgaben", beginnt Gustave Flaubert "Madame Bovary". Aber selbst solchen unscheinbaren Sätzen verleiht ihre Position etwas Epiphanisches, eine Würde, die sie an anderer Stelle nicht hätten.

Mag sein, daß er zurückgekehrt ist, um den Leser an der Hand zu nehmen und ihn über die Schwelle zu geleiten. Denn auf ein solches Abenteuer läßt man sich zögernd ein. Man zweifelt, ob man dieser Stimme trauen darf, die da aus der Wildnis des noch Unbekannten lockt: Lohnt es sich, in deren Träumen schweifend verlorenzugehen? Ein erster Satz muß deshalb verführen können; er muß aber auch das Versprechen enthalten, daß der Aufbruch nicht umsonst ist: daß es tatsächlich eine Geschichte zu erzählen gibt.

Nur selten zwingt ein Anfang so souverän zum Weiterlesen wie in Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung": "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt" – eine Öffnung in beide Richtungen: Man möchte sowohl wissen, was vorausging, weshalb Gregor Samsas Träume so unruhig waren und wer er überhaupt war, bevor er ein ungeheueres Ungeziefer wurde, als auch, wie er damit umgeht.


 
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