© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
Nützliche Leistungsschau
Eine Nachrede zum Theatertreffen 2000 in Berlin
Hans-Jörg von Jena

Das Berliner Theatertreffen ist vorbei, die Diskussion geht weiter. Leider wird sie nicht über ästhetische Fragen, über den gegenwärtigen Stand oder über die Zukunft der Theaterkunst geführt, wie es zehn Inszenierungen als eine Art Spielzeitbilanz doch eigentlich nahelegen müßten. Geschrieben und gestritten wird vielmehr steril über vermeintlich Grundsätzliches: Hat das Theatertreffen noch Wert? Ist die Jury richtig zusammengesetzt? Kostet der Berliner Gastspielreigen nicht Geld, das anderswie sinnvoller zu verwenden wäre?

Man kennt das, es gehört zum Ritual, und man könnte darüber mit Achselzucken hinweggehen. "Bemerkenswert" ganz im Sinne des Auswahlkriteriums ist allerdings der Kreislauf von Zweifel und Mäkelei. Kritiker machen Vorbehalte, die kulturpolitischen Schreiber ihrer Zeitungen (oft sind beide miteinander identisch) greifen sie auf. Sowie sich jedoch, davon beeindruckt, Politiker Gedanken über "Einsparungen" zu machen beginnen, wird das Theatertreffen wiederentdeckt. Regisseure, die es eben noch abschaffen wollten (besonders dann, wenn ihre Arbeiten nicht berücksichtigt wurden), und Journalisten, denen das Wort "überflüssig" leicht von den Lippen kam, preisen plötzlich unerwartet einmütig den alljährlichen Berliner Veranstaltungsreigen und erklären ihn für "unverzichtbar".

Geben wir‘s etwas billiger. Gänzlich unentbehrlich ist im kulturellen Leben wenig und vielleicht gar nichts (außer der Kunst selbst, ohne die der Mensch zum Alltagstier verkäme). Es genügt die Einsicht, daß das Theatertreffen eine höchst nützliche Sache ist. Es gedeiht auch, scheint derzeit sogar munterer als in manchem früheren Jahr. Einst Hauptstadt-Ersatz und kulturelle Hauptstadt-Vorwegnahme im isolierten West-Berlin, nimmt es heute die Metropolenaufgabe einer zentralen Leistungsschau ohne Abstriche wahr. Seine Aktualität ist auch da, wo es langweilige Produkte offeriert, unvermeidlich. In der Auswahl spiegelt sich die ständigem Wandel unterworfene Gegenwart – wenn nicht die der Gesellschaft, dann zumindest die des Theaters in deutschsprachigen Ländern.

Theater ist immer live. Eine triviale Weisheit, ein dümmlicher Spruch. Einst suchte der Berliner Senat mit ihm für den Besuch seiner künstlerisch daniederliegenden Schauspielhäuser zu werben. Inzwischen stellt man fest: ganz ohne Einschränkung stimmt er nicht mehr. Ein Medium wie das Fernsehen hält Bühnenereignisse, die für den Augenblick gedacht sind, für später fest. Was sich an den unmittelbar präsenten Zuschauer oder Zuhörer wendet, wird durch Ausstrahlung in die Ferne vervielfältigt. Beim Theatertreffen erwirbt sich insbesondere 3sat seit Jahren ein großes Verdienst, indem es einen Teil der Aufführungen entweder direkt oder in zeitlich naher Aufzeichnung überträgt, diesmal immerhin sechs der zehn Aufführungen.

Lohnt sich unter diesen Umständen ein Rückblick? Es mag sein, daß manch ein Interessierter das Theatertreffen überhaupt, jedenfalls zur reichlichen Hälfte, noch vor sich, weil im elektronischen Kasten gespeichert und noch nicht angesehen hat. Gleichwohl ist Virtuelles nicht die Sache selbst. Das wird sich auch im Herbst zeigen, wenn 3sat, wie angekündigt, die zwölfstündige "Schlachten!"-Inszenierung aller acht Shakespeareschen Königsdramen in voller Länge sendet. Selbst dann, wenn der Zuschauer die durch vier Pausen gegliederte Aufführungszeit vor der häuslichen Glotze real zu imitieren strebte.

"Schlachten!", gespielt in der Arena Treptow (wo auch Peter Steins "Faust"-Inszenierung ihren Platz finden wird), wurde allgemein als Höhepunkt des diesjährigen Theatertreffens gewertet. Daß die Aufführung zu den tatsächlich bemerkenswerten der letzten Spielzeit gehört, daran kann kein Zweifel bestehen.

Luc Perceval und Tom Lennoy, das junge Regisseur-Duo, strapazieren nicht aus sportlichem Ehrgeiz das Sitzfleisch und Duchhaltevermögen ihrer Zuschauer. Sie finden ihre Erwartung bestätigt, daß durch die lange Strecke eine ungewohnte Solidarität zwischen Bühne und Sitzreihen, ja eine Art euphorisches Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht. Die Voraussetzung hat Shakespeare in unvergleichlicher Weise geliefert: das dramatische Epos seiner beiden Tetralogien bietet all die blutigen und grausamen Kämpfe um Macht, Ehre und Liebesgier nicht als öde Schlachtenfolge, sondern als Porträtgalerie berührender Schicksale. Ob der im Unglück zu menschlichem Format wachsende Richard II., der verschlagene, von Gewissensbissen heimgesuchte Heinrich IV. oder das finstere Monstrum Richard III: (um nur Beispiele zu nennen): eine überraschend junge Schauspielertruppe bringt sie engagiert nahe. Und wie hier die Sprachen – Deutsch, Englisch, Französisch – sich abwechseln, wie die heuchlerisch hohe Sprachebene der Haupt- und Staatsaktion mit ordinärem Slang gemischt wird, gibt der Inszenierung spezifischen Reiz.

In der Berliner Tageskritik kam ein Theatertreffen-Beitrag fast durchweg zu gut, ein anderer ebenso einhellig zu schlecht weg. "Jeff Koons" von Rainald Goetz, uraufgeführt in Hamburg, taugt wirklich gar nichts. Geschwätz über Kunst, die Schauspieler konnten einem leid tun, auch wenn sie vom jungen Stefan Bachmann und namentlich der Bühnenbildnerin Barbara Ehnes in einen einfallsreichen Rahmen gestellt waren. Hingegen erwies sich Ibsens "Ein Volksfeind" in der Fassung des Theaters Basel (Regie: Lars-Ole Walburg) wieder als aufrüttelnd durchschlagkräftiges Gesellschaftsstück, dessen Aktualität im Zeitalter des Umweltschutzes noch zugenommen hat. Die Norweger sind hier alle zu Schweizern umfunktioniert, aber der Weltverbesserer Dr. Stockmann (Michael Neuenschwander) hält als ein Wilhelm Tell gegen die Korruption genau Ibsens Balance von Idealismus und komischer Narrheit.


 
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