© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
CD: Pop
Sentimentalitäten
Peter Boßdorf

The Cure hat nach ungehobelten, aber zeittypischen Anfängen vor knapp 20 Jahren sehr schnell zu einem in das Gemüt einsickernden Sound gefunden, der einen der unverwechselbaren Erinnerungspunkte im jüngeren Pop setzte. Kopiert wurden sie nur von einem harten Kern des Publikums: in der Art sich zu schminken und die Haare so zu behandeln, daß sie wie schnell sprießendes Unkraut aussahen, nicht zuletzt aber im Vermögen, einen Blick zu perfek- tionieren, der nicht nur unbeteiligt, sondern auch traurig schien. Die Musik von The Cure hingegen mußte sich, obwohl sie so erfolgreich war, keiner Verfolger, Quereinsteiger oder Crossover-Kidnapper erwehren. Vielleicht fürchteten potentielle Nachahmer die Untiefen, denn es ist immer noch ein großes Rätsel und wahrscheinlich eine Art Betriebsgeheimnis von Robert Smith und seinen Partnern, wie sie es trotz aller unverhohlenen Sentimentalität anstellten, eben nicht peinlich zu wirken. Das Spektrum der Stimmungen, die von der Band bedient wurden, läßt sich an drei ihrer Alben festmachen: "Seventeen Seconds" entkoppelte in akribischer Langatmigkeit von der Welt, die ignoriert werden konnte und daher ihrer Belanglosigkeit überführt war. "Pornography" stellte klar, daß die Welt, so wie sie ist, sich gleichwohl nicht in Sicherheit wiegen darf, sondern unter Anklage zu stellen ist. "Disintegration" verführte durch seine Homogenität, seine Gelassenheit und seine Länge zu der Hoffnung, daß sich ein Gleichgewicht finden läßt.

Die neue CD mit dem Titel "Bloodflowers" (Polydor) nun, nach vier Jahren Pause fast schon ein Comeback, zeigt die Band von keiner neuen Seite, macht aber nach den Identitätsproblemen der neunziger Jahre eine altvertraute wieder sichtbar: Es ist jene von "Disintegration", die nun im Abstand von einem Jahrzehnt gespiegelt wird. War jenes Album eine Art Abschied von der Jugend, mit der man sich noch in Berührung wähnen durfte, so ist dieses ein Werk musikalischer Erinnerung und konzentrierter Lebensbewältigung auf halbem Weg zwischen Pubertät und Wohnstift. "Bloodflowers" hinterlegt die Notiz, daß mit den Mitteln von The Cure vielleicht doch noch nicht alles gesagt worden ist. Jetzt wäre man froh, doch noch ein wenig gespannt sein zu dürfen.

Die Sentimentalität, mit der Calexico auf "Hot Rail" (City Slang/ Virgin) seinen Hörern nahe tritt, ist nicht allgemeinmenschlich, sondern von einem starken Lokalkolorit geprägt. Hätte man nicht all diese angestaubten Bil-derwelten von Reitern im gesetzlosen Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko im Kopf (zuletzt im "Jein"-Video von Fettes Brot), würde man die folkloristischen Attitüden dieser Band mit Sitz in Tucson/Arizona wahrscheinlich einfach als Latino-Kitsch abtun. So kann man damit zum Beispiel Kakteen, Sonne, Frauen und jede Menge Hochprozentiges assoziieren, fällt damit allerdings hinsichtlich der Authentizität des Nachempfindes deutlich hinter den Bewußtseinsstandard des deutschen Urlaubsschlagers zurück. Calexico selbst betritt mit seinem Video zur "Ballad of Cable Hogue" eine ironische Ebene, deren Kenntnis auch einen anderen Zugang zur CD erschließt. Nun fallen die Folklore-Zitate nicht mehr aus dem Zusammenhang, sondern erscheinen genauso als spielerische Experimente wie jene, natürlich mit "Untitled" betitelten, Akkordeon-Klangsequenzen, die Erik Satie nachempfunden sind, oder die Studio-Improvisation "Mid Town", in die man unvermittelter Dinge hineinstolpert. "Hot Rail" bringt nicht ein Konzept oder einen Stil zum Ausdruck, sondern stellt Interessenschwerpunkte und Ver-wandlungsfähigkeiten dar. Tucson wird dabei zur Metapher für ein mentales Rückzugsgebiet, das die Heiterkeit der musikalischen Modernitätsverweigerung vermittelt. "Hot Rail" ist daher bei aller vermeintlichen Bodenständigkeit schwerelos.


 
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