© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
Bedrohung aus dem Nichts
Kollateralschäden im virtuellen Raum
Silke Lührmann

Als ein Liebesbrief vor einigen Wochen die virtuelle Welt kurzzeitig lahmlegte, feierten manche Kommentatoren – zwar nicht ohne die gebührende postmoderne Ironie – Hacker als die existentialistischen Helden des 21. Jahrhunderts. Andere fanden es besonders bedeutsam, daß die Betreffzeile, von der sich so viele Menschen anstecken ließen, ausgerechnet "I Love You" lautete. AIDS läßt grüßen und die Vision einer lieblosen Welt, in der an Entfremdung und sozialer Kälte leidende Sachbearbeiter gierig alles anklicken, was ein bißchen Menschlichkeit verspricht. Wieder andere Kommentare kreisten um brennende Probleme wie die Unverletzlichkeit der Datenwürde und die knifflige Frage, ob Entschädigungsansprüche aus Versicherungspolicen geltend gemacht werden können, oder stellten historischen Durchblick zur Schau, indem sie den Vergleich zum Brand der Bibliothek von Alexandria anstellten. Was niemandem auffiel, was zumindest niemand zur Sprache zu bringen wagte, war die Absurdität dieser ganzen Aufregung.

Als ob es nicht genügend Naturkatastrophen gäbe, die Jahr für Jahr Tausende von Menschen ums Leben töten – von echten Virusepidemien ganz zu schweigen –, können frühreife Schüler Angst und Schrecken in den Chefetagen und typing pools verbreiten, indem sie auf der Tastatur ihres Computers herumklimpern. Cyberterrorismus? Hypervirulente Krankheitserreger? Virtuelle Kriegserklärung? Nicht nur, wer reale Verluste in realen Tragödien – Lockerbie, Ebola, Grosny – erlitten hat, sollte sich gegen diese Metaphern der Verharmlosung wehren.

In der analytischen Philosophie sind "alternative Welten" in sich geschlossene Weltentwürfe, die möglich, aber nicht wirklich sind. Unter Science-Fiction-Anhängern und anderen Esoterikern wird nicht erst, seit die Chaos-Theorie Mitte der achtziger Jahre den Zauberwürfel als Partyrenner ablöste, über die Existenz paralleler Universen unter anders kontingenten Vorzeichen spekuliert. Elvis ist dort Kaiser von Pan-Amerika. Und was wäre, wenn die Dinosaurier sich geweigert hätten, der Evolution ihren Platz zu räumen?

Wir nun haben uns eine künstliche Spielwelt erschaffen, die neben unserer Lebenswelt besteht und sich mehr und mehr mit ihr zu überschneiden beginnt. Manche sehen in ihr das Heilsversprechen und meinen gar, hier ließe es sich besser und demokratischer miteinander auskommen. Andere nutzen sie emsig, um noch mehr Verbraucher zu überzeugen, einen noch größeren Anteil ihres Gehalts in die Erfüllung nie gehabter Träume zu investieren. Postmoderne Theoretiker fühlen sich in diesem Simulacrum zu Hause wie die Maden im Speck, weil sie hier selbst ihre abstrusesten Gedankenspielereien sozusagen naturalisiert sehen. Nicht zuletzt gaukelt das Internet die Erlösung von einer uralten Sehnsucht vor: ganz im Kopf zu leben (im eigenen, aber erst recht in denen anderer) und die demütigenden Schwächen des Körpers hinter sich zu lassen.

Cybersex, so will man uns weismachen, sei die – mindestens – ebenbürtige Variante und dabei sehr viel sicherer, trotz Virengefahr und der verzwickten Rechtslage bei virtuellen Vergewaltigungen. Auch wer alt ist oder krank, darf wenigstens virtuell an seinem Grundrecht auf Konsum teilnehmen. Und Hunger, Kälte, politische Unterdrückung sind schnell vergessen, wenn die grenzenlose Freiheit des World Wide Web nur einen Mausklick entfernt ist.

Der Millionenschaden, den "I Love You" anrichtete, verheerte ausschließlich diese gefälschte Welt. Daß er in der Lebenswelt erhebliche Nachbeben auslöste, ist unbestreitbar, zeigt aber lediglich den Wahnwitz dieser Abhängigkeit auf, in die wir uns mit offenen Augen und voller Begeisterung begeben haben. Von dem sogenannten Millenniumsvirus Y2K etwa erwartete man seinerzeit, er werde die Strom- und Wasserversorgung außer Kraft setzen, Supermärkte versiegeln, Rentenansprüche vernichten, Flugzeuge vom Himmel fallen lassen, den Dritten Weltkrieg lostreten und Videorekorder unbrauchbar machen. Die sorgsam aus Christentum und Kaltem Krieg herübergeretteten Weltuntergangsphantasien hätten endlich Wirklichkeit werden können – und dies alles sogar in Teilen der Erde, deren Kulturen überhaupt nicht an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend standen.

Im Vergleich zu den Seuchen, mit denen die Natur auch heute noch aufwarten kann, sind Computerviren putzige Haustierchen. Wahr ist allerdings, daß sie einen Hauch von Abenteuer in allzu ungelebte Leben bringen. Nach wenigen Stunden wird Entwarnung gegeben. Der Spuk ist vorüber; man hat sich die Welt noch einmal gefügig gemacht, und sei es nur die virtuelle. Der Büroalltag kehrt wieder ein, erdrückend langweilig wie immer, aber man fühlt sich geläutert und solidarisiert von der gemeinsam durchgestandenen Gefahr. Der Buchhalter wendet sich mit einem stolzen Strahlen seinen verwüsteten Excel-Sheets zu, weil er auf dem Höhepunkt der Bedrohung der Sekretärin beschützend den Hintern tätscheln durfte. Auch der Abteilungsleiter reibt sich die Hände und beschließt, auf das nun überflüssige Überlebenstraining-Seminar zur Optimierung gruppendynamischer Strukturen zu verzichten. So hat er zugleich seiner Firma Geld gespart, seinem Team ein unverhofftes freies Wochenende beschert und dabei einmal mehr bewiesen, daß es sich immer noch auszahlt, Humanressourcen großzuschreiben. Der schweißgebadete EDV-Beauftragte wird spontan zum Mitarbeiter des Monats gekrönt. Er summt David Bowies "Heroes" vor sich hin, während ihm auf dem Bildschirm die Windows-Ikonen wie alte Freunde entgegenlächeln. "We can be dead / forever and ever / or we can be heroes / just for one day ...": Er weiß jetzt ein für allemal, auf welcher Seite er steht – und daß er sich seinen Weihnachtsbonus redlichst verdient hat.

Wenn sich irgendwann einmal Gesundheitsbehörden nur noch um die Programmierung von Virenscannern kümmern müßten, wenn Kollateralschäden nur noch in der Cyberwelt entstünden, wenn die Polizei nichts weiter zu tun hätte, als Verbrechen an virtuellen Körpern aufzuklären – das wäre Fortschritt. Soweit sind wir aber noch nicht. Bis dahin sollten wir uns von der Kontrolle, die wir (noch) über unsere selbstgestrickte Scheinwelt haben, nicht blenden lassen. Schon Goethes Zauberlehrling mußte erfahren, wie schwierig es ist, gleichzeitig die Lebenswelt und die Geister im Auge zu behalten, die man zwecks ihrer bequemeren Beherrschung zu Hilfe gerufen hat.


 
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