© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/00 09. Juni 2000

 
Weltmacht oder Untergang
Sönke Neitzels Studie über die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus
Orlanda Rossetti

Der unaufhaltsame ökonomische und politische Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika ließ in Europa schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, verstärkt dann nach dem amerikanischen Bürgerkrieg die Gewißheit aufkommen, daß das alte europäische Staatensystem von einem neuen Weltstaatensystem abgelöst werde. An die Stelle der europäischen Pentarchie werde ein System von Weltreichen treten. Als Kandidaten kamen dafür die USA, Rußland, das britische Empire und China oder Japan in Betracht. Um die Jahrhundertwende führte diese Vorstellung in Deutschland zu einer breiten Debatte darüber, wie man den Anschluß an dieses neue System schaffen könnte. Auch in Großbritannien evozierten die USA Angst, im neuen Mächtesystem nicht mehr mithalten zu können. Kolonialminister Joseph Chamberlain arbeitete auf eine Imperial Federation, einen engeren Zusammenschluß des Empires hin, was allerdings auf den Kolonialkonferenzen auf Widerstände der betroffenen Länder stieß. Während die USA voller Optimismus in ihre Weltmachtzukunft blickten, wurde in Rußland diese Debatte nur vereinzelt geführt, eine Erkenntnis, die allerdings auch mit der "Sprachbarriere" des Autors der vorliegenden Studie zusammenhängen dürfte. Frankreich wurde hingegen sowohl von den anderen Weltmachtkandidaten wie in der Eigenbewertung von vornherein aus dem Kreis ernstzunehmender Konkurrenten ausgeschlossen. Zu sehr wirkte die Niederlage im deutsch-französischen Krieg nach, zu sehr hinkte es in der Geburtenrate hinterher.

Das Fundament, auf dem die Debatte um das entstehende Weltstaatensystem geführt wurde, zergliedert Sönke Neitzel in drei altbekannte "Axiome": Sozialdarwinismus, Raumgedanke und die Vorstellung einer weitgehenden Autarkie. Spätestens jetzt fragt sich der ideengeschichtlich informierte Leser, was denn das Besondere an der Weltreichslehre ist. Ist dies nur ein weiterer Begriff für den Imperialismus? Tatsächlich hat Neitzel auch Schwierigkeiten, den Gegenstand seiner bei Winfried Baumgart in Mainz entstandenen Habilitationsschrift abzugrenzen oder erst zu konstruieren. Kernelemente der Weltreichslehre ist für ihn die Vorstellung einer zwei- bis viergliedrige Multipolarität, die das eurozentrische Großmachtsystem ersetzt. Diese Weltreiche teilen die Welt in ökonomische Einflußsphären auf. Der Erfahrungshintergrund bestand dabei in der imposanten ökonomischen Potenz Amerikas, das etwa seit 1880 die europäische Landwirtschaft und seit den neunziger Jahren die Industrie einem starken Konkurrenzdruck aussetzte. So wundert es nicht, daß die Weltreichsdebatte besonders in der Nationalökonomie Anklang fand. Um 1900 flaute die Diskussion allgemein ab. In Großbritannien konzentrierte man sich nach dem Ausgleich mit Rußland (1907) auf Deutschland, wo durch die russische Niederlage gegen Japan, den wirtschaftlichen Aufschwung und fehlende Realisierungschancen der Debatte der Wind aus den Segeln genommen wurde.

Das änderte sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Nun schien das Feld für politische Visionäre bereitet. Im Reich wurden schon sehr früh Gedanken über deutsch dominierte "Vereinigte Staaten von Europa" ventiliert. Der liberale Völkerrechtler Franz von Liszt publizierte 1914 sein Buch "Ein Mitteleuropäischer Staatenbund", in dem er für Deutschland selbst nach einem Sieg nur dann den Status einer Weltmacht prognostizierte, sofern es sich mit anderen Staaten zu einer Währungs- und Rechtsunion zusammenschlösse. Die alldeutsche Kritik an diesem Konzept, es das Reich zu sehr in ein gemeinsames Mitteleuropa einbinden, zeigt, daß die Weltreichslehre keineswegs ein ausschließlich rechtes Projekt war, wie manche es im Hinblick auf deren Axiome vielleicht argwöhnen. Von Gustav Schmoller bis in die SPD hinein fand es ein Anhänger. Den absoluten Durchbruch schaffte die Mitteleuropaidee durch das Buch "Mitteleuropa" (1915) des Nationalsozialen Friedrich Naumann. Gegen die sich ökonomisch abschließenden "Großkörper" müsse sich ein "Gravitationszentrum" aus den Mittelmächten bilden, denen sich weitere Kleinstaaten anschließen könnten. Mitteleuropa müsse einen einheitlichen Wirtschaftsblock und ein gemeinsames Heer besitzen. Enge Verbindung sollte es zur Türkei halten. Andere Autoren gingen weit darüber hinaus, hofften auf einen Block "Berlin-Bagdad" oder noch mehr. Die Weltreichslehre fand zwar auch Eingang in die Vorstellungen der Reichsleitung, Neitzel erörtert dies am berühmten Septemberprogramm und die Debatten auf der Staatssekretärs- und Referentenebene darüber. Mit Blick auf die zähen zollpolitischen Verhandlungen mit Österreich resümiert er jedoch, daß die "praktische Schwierigkeiten und die konkreten nationalen Interessen" stärker als "ein oft propagiertes Weltbild" die Politik bestimmt hätten.

Für die anderen Länder sieht Neitzel nur noch vereinzelte Nachfahren der Weltreichslehrer am Werk, zu stark dominierte die feindliche Konzentration auf Deutschland. Wenn er allerdings meint, daß es in Großbritannien und den USA keine Debatten "über das Weltstaatensystem der Zukunft" im Ersten Weltkrieg gegeben habe, so blendet er die umfangreiche Debatte über den Komplex Weltstaat, League of Nations oder eine fortgeschriebene Allianz der Alliierten schlicht aus. Hier zeigen sich die Probleme seiner Studie. Obwohl von Baumgart überschwenglich als komparativ angepriesen, bleibt die Studie letztlich deutschlandzentriert. Dies zeigt sich nicht nur bei der quantitativen Gewichtung. Auch Fehlbewertungen über das Empire verraten dies, wenn Neitzel hartnäckig von einer "innenpolitischen" Ausrichtung der Weltreichslehre in Großbritannien spricht, was der vielschichtigen Konstruktion des Empires nicht gerecht wird. Auch veranschlagt er die Angst vor einem Abstieg Großbritanniens angesichts der ökonomischen, wissenschaftlichen und organisatorischen Stärke des Deutschlands viel zu gering. Hier hätte ihm Günter Hollenbergs Buch über "Englisches Interesse am Kaiserreich" weiterhelfen können, das er jedoch nicht berücksichtigt. Überhaupt fällt eine Beliebigkeit bei der Auswahl der Primär- und Sekundärliteratur ins Auge, was noch dadurch verstärkt wird, daß die einzelnen Autoren nur unzureichend vorgestellt und eingeordnet werden. Zudem streift der Autor Diskursthemen wie Imperialismus, Nationalismus, Sozialdarwinismus und Geopolitik, ohne sich auf diese einzulassen. Unangenehm fällt auch ein Oberlehrerton auf, der zwar gottlob meilenweit vom ideologiekritischen Duktus der siebziger Jahre entfernt ist, jedoch oft ohne hinreichende Begründung die präsentierten Gedankengänge als "emotional" disqualifiziert. Dabei hatten die Ideologen der Weltreichslehre zumindest in der Vorstellung von dominierenden Weltmächten im 20. Jahrhundert recht, vor allem jedoch war die Skepsis hinsichtlich einer dominierenden Supermacht USA sicherlich nicht unbegründet. Im Hinblick auf die Großraumordnung Carl Schmitts oder die Europäische Union und die nordamerikanische Freihandelszone bietet sich weiteres Aktualisierungspotential für die Weltreichslehre.

 

Sönke Neitzel: Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus. Schöningh, Paderborn 2000, 453 Seiten, 98 Mark


 
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