© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
Gefangen im Reservat
Die Heimatvertriebenen haben sich politisch neutralisiert
Dieter Stein

An Pfingsten fanden wie jedes Jahr große Treffen von Vertriebenenorganisationen statt. So trafen sich in Leipzig die Ostpreußen und in Nürnberg die Sudetendeutschen. In Bussen, mit der Bahn oder mit dem Auto fahren die Überlebenden der Erlebnisgeneration und einige Kinder und Enkel quer durch Deutschland, um sich wiederzusehen. Die Treffen folgen einem immer gleichen Ritual. Wie in Gottesdiensten versammeln sich schließlich in beeindruckender Zahl Tausende jeweils in einer Großveranstaltung. Das Zeremoniell beinhaltet die Rede des Sprechers der Landsmannschaft, den Ein- und Ausmarsch von Fahnenabordnungen, die Ansprache eines Gastredners – in aller Regel ein führender Politiker aus den Reihen von CDU oder CSU – und das stehende Singen der Nationalhymne. In dieser politischen Messe werden Kräfte gesammelt und demonstriert, daß man noch nicht verstummt ist. Politiker und die Öffentlichkeit sollen den Blick über die langen Bankreihen schweifen lassen und erkennen, wie groß die Zahl derer ist, die noch leben und deren Schicksal mit dem Jahrhundertverbrechen der Massenvertreibung von zwölf Millionen Deutschen aus den Ostprovinzen und dem Sudetenland verbunden ist.

Dennoch übergeht die Öffentlichkeit die Zusammenkünfte regelmäßig mit weitgehender Nichtachtung. Für kurze Pflichtminuten werden sie in der Tagesschau gezeigt, irritierte Reaktionen aus Warschau und Prag eingefangen – das war’s. So sind die Vertriebenen-Treffen in erster Linie große Familienfeiern, auf denen sich Bekannte und Verwandte wiedersehen und sich an die Vergangenheit erinnern. Viele wollen einfach auch nicht mehr. Sie treffen sich in riesigen Hallen, in denen Schilder die Ortsnamen nennen, unter denen sich nach Kreisen geordnet die Menschen begegnen. Ein Summen wie in einem Bienenstock erfüllt den Raum. Herzlos ist, wen dies nicht ergreift.

Wer aber politische Impulse von Vertriebenentreffen erwartet, sieht sich getäuscht. Viele kommen dorthin, um einen jahrelangen Abschied von ihrer Heimat zu feiern, die sie schon lange verloren gegeben haben. Sie wollen sich aber nicht die Erinnerung und die Bilder der Jugend nehmen lassen. Und sie wollen, daß die Mitmenschen Anteil an ihrem Schicksal nehmen.

Doch im allgemeinen ist die Vertreibung kein Thema in der deutschen Erinnerungskultur. Götz Aly ist nicht völlig zu widersprechen, wenn er in einem Aufsatz die Vertriebenentreffen als sommerliche Ritterspektakel abqualifiziert. Dann schreibt er aber: "Aber in aller Regel verbirgt sich hinter der eisernen Rüstung ein weiches, heimatliebes Inneres voller Minne, Lindenduft und Nachtigallenschlag." Götz Aly beklagt sich schließlich darüber, daß man in Deutschland nicht über Flüchtlingserinnerungen und Vertreibungsverbrechen selbstverständlich reden könne, weil einem ansonsten sogleich "Herr Stoiber ins Wort fällt oder ein Verbandsfunktionär jeden Ansatz eines Gedankens niedertextet". Falsch ist dieser Vorwurf deshalb, weil die Stimme der Vertriebenen gar nicht so laut ist, wie hier behauptet wird. Im Zuge des Kalten Krieges wurden sie als Störenfriede weitgehend zum Schweigen gebracht. Die Vertriebenen-Problematik wurde zur Angelegenheit gleichnamiger Verbände degradiert und aus dem allgemeinen Interesse ausgegliedert.

Auf der anderen Seite tragen die Vertriebenenverbände und ihre Funktionäre selbst Verantwortung dafür, daß die Vertriebenen als politischer Faktor erfolgreich ausgeschaltet werden konnten. Unter der Regie von Konrad Adenauers CDU gelang es, Vertriebenen-Parteien wie den BHE aufzusaugen und die landsmannschaftliche Zersplitterung der Kräfte zu verfestigen. Nach dem Motto "Teile und herrsche" erhielt jede Landsmannschaft in den fetten Jahren ihre eigene Spielwiese. Hauptamtliche Apparate, Häuser, Publizistik (jede Landsmannschaft hatte bis vor kurzem ihre eigene Wochenzeitung!) fraßen Steuermillionen noch und noch und stellten die einzelnen Landsmannschaften ruhig. Böse Zungen nannten das ein Aufkaufen der Vertriebenenverbände durch den Staat, hinter dem die CDU stand.

So wurden aus den Landsmannschaften nolens volens Vorfeldorganisationen der Union, denen die Zähne gezogen wurden. Im Gegensatz zu den Gewerkschaften, die starke Schnittmengen zur Sozialdemokratie aufweisen und ihr ebenso stets politisch zugeschrieben werden, war der Bund der Vertriebenen (BdV) aber niemals in der Lage, zu streiken oder auf andere Weise die Politik unter Druck zu setzen.

So akzeptierten die Funktionäre des BdV, daß die Vertriebenen ins Reservat von Organisationen gepfercht wurden, die sie ruhigstellten. Viele haben sich im Laufe der Jahre auch genervt abgewendet und können von solchen Treffen nichts mehr hören, obgleich ihnen der deutsche Osten noch ein Anliegen ist. Die alljährlichen Treffen dienen so als legitimes psycho-soziales Ventil, zum Wundenlecken und Frustabbau. Auf die Zukunft gerichtete Impulse sind jedoch selten zu finden.

Die Vertriebenen sind nicht einmal in der Lage, ihre kostenfressende Aufsplitterung in Dutzende Landsmannschaften aufzugeben und beispielsweise ihre Einzeltreffen in einer gemeinsamen Vertriebenen-Messe zusammenzufassen. Sie haben – mit wenigen Ausnahmen – nicht daran gedacht , finanzielle Rücklagen zu bilden und die Verbandsarbeit aus eigener Kraft zu sichern. Warum sollte man dann aus ihren Reihen tragfähige Konzepte für eine politische und wirtschaftliche Entwicklung Ost-Mitteleuropas erwarten, an denen weder deutsche noch polnische oder tschechische Regierungen vorbeikommen?


 
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