© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
Ein Kronjuwel im antifaschistischen Mythenschatz
Philipp-Christian Wachs liefert mit der Biographie Theodor Oberländers einen Beitrag zur bundesdeutschen Ideologiegeschichte
Jessica Rohrer

Der stellvertretende Vorsitzende des Blocks der Heimatvertriebenen, Kriegsgeschädigten und Entrechteten (BHE), der Nationalökonom und Agrarwissenschaftler Theodor Oberländer, trat im Herbst 1953 in das zweite Kabinett Konrad Adenauers ein. Er wurde damit bis zu seinem spektakulären Rücktritt im Frühjahr 1960 zuständig für die Bewältigung der Folgen einer historischen Großkatastrophe, die Vertreibung von fünfzehn Millionen Deutschen, die ein Bundespräsident Mitte der achtziger Jahre bereits so leichtfertig wie zynisch als "erzwungene Wanderschaft" bezeichnen durfte.

Jener Bundesvertriebenenminister Oberländer, den Philipp-Christian Wachs, sein junger Biograph des Jahrgangs 1967, in einer beim Münchner Zeithistoriker Michael Wolffsohn entstandenen Dissertation präsentiert, scheint alle Vorurteile zu bestätigen, die man mit diesem Namen assoziieren kann. Als vierschrötiger Karrierist ein Prototyp der bundesdeutschen Aufbaujahre, ein erheblich "Vorbelasteter", aber ein unersetzlicher "Experte", auf den unmittelbar nach Kriegsende schon der US-Militärgeheimdienst nicht verzichten wollte. Ginge man allein nach der knalligen Verlagsankündigung ("Hitlers ‚Ostlandritter‘ und Minister unter Adenauer"), kann man also nur die ausgelaugte Geschichte von "Restauration" und "Renazifizierung" erwarten.

Doch genau dies ist nicht Wachs’ Thema. Oberländers rasanten Aufstieg vom arbeitslosen Professor zum bayerischen Staatssekretär für Flüchtlingsfragen und schließlich zum Minister in nur drei Jahren handelt der Autor relativ kurz ab. Ebensowenig versucht er eine Geschichte der Vertriebenenpolitik der fünfziger Jahre. Deren strategisches Dilemma arbeitet er jedoch präzise heraus. Welche Rolle sollte den Flüchtlingen im Haus der jungen BRD zukommen: "Baustein oder Dynamit?" Eine erfolgreiche, auf materielle Sicherheit und soziale Stabilität gerichtete Politik zugunsten der 15 Millionen Heimatlosen mußte dem BHE langfristig die Wählerbasis entziehen und damit, je erfolgreicher desto eher, sein eigenes Ende bewirken. Im Schatten milliardenschwerer Lastenausgleichsprogramme, so skizziert Wachs die Politik Oberländers, realisierte sich immer mehr der Anspruch auf "Lebensrecht im Westen", während die Forderung nach "Heimatrecht im Osten" und implizit nach der Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937, sukzessive zur Phrase in den Sonntagsreden der Vertriebenenfunktionäre verkommen sei.

Adenauers mehrstufige Politik einer gezielten Westintegration der Bundesrepublik mußte solchen "gesamtdeutschen Träumen" zuwiderlaufen, zementierte die Teilung und rückte die Heimat im Osten in unerreichbare Ferne. Dieser Konflikt zwischen den westlich orientierten "Lebensrechtlern" um Oberländer und den gesamtdeutschen "Heimatrechtlern" des BHE sollte die Partei bald zerreiben. Oberländer und Waldemar Kraft, der BHE-Gründer, traten daher 1953, nach erheblichen Zugeständnissen an den Adenauer-Kurs, bereits als "zahnlose Tiger" ins Kabinett ein. So kam der Pragmatismus und realpolitische Opportunismus Oberländers seiner kriegsgeschädigten Klientel zwar zugute. Doch die fast bedingungslose Anpassung an Adenauers Westkurs hatte ihren Preis: die Festschreibung der Teilung, die den beiden "Opportunisten" in den Führungszirkeln der Landsmannschaften als "historische Schuld" vorgehalten wurde.

Oberländer und Kraft zogen 1955 mit ihrem Übertritt zur CDU die Konsequenz aus der inneren Zerrissenheit und dem sich anbahnenden Zerfall des BHE. Die "Integration der Vertriebenen als integraler Bestandteil des Kalten Krieges" (Wachs), die Ratio der Vertriebenenpolitik Oberländers, war gelungen, die eigenständige politische Rolle der Vertriebenen aber ausgespielt. Spätestens nach Ende des Kalten Krieges hatten sie ihren Part als christdemokratischer Mohr erfüllt und konnten gehen. Seit den siebziger Jahren haben sie nur noch ornamental-folkloristische Bedeutung, ein Stimmenreservoir für die Unionsparteien, die dies mit finanzieller Unterstützung für die politisch inzwischen isolierte, kaum noch marginale "Kulturarbeit" der Landsmannschaften honorieren.

Doch dieser Teil der Geschichte der Bundesrepublik ist nur die – freilich unverzichtbare – Bühne, auf der Wachs sein eigentliches "Lehrstück deutscher Geschichte" zur Aufführung bringt, das die "Mechanismen des instrumentaliiserten Antifaschismus" thematisiert. Alles dreht sich dabei um Oberländers Sturz, den 1959 Anklagen aus Ost-Berlin auslösten, denen zufolge der Bonner Minister an "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" beteiligt gewesen sei. Erich Mielkes Geschichtsfälscher konstruierten zwei große Tatkomplexe: den Massenmord an Juden in Lemberg, unmittelbar nach Beginn des Rußlandfeldzugs im Juni 1941, und Kriegsverbrechen im Nordkaukasus ab Sommer 1942, als Oberländer eine Einheit befehligte, die sich aus Georgiern, Armeniern und Aserbaidschanern rekrutierte, die auf Seiten der Wehrmacht gegen ihren Unterdrücker Stalin kämpften.

Wachs kann anhand der seit 1991 zur Verfügung stehenden Akten des Ministeriums für Staatssicherheit minutiös rekonstruieren, daß die Anklagen haltlos, der in Ost-Berlin gegen Oberländer in Abwesenheit geführte und mit dem obligaten "Lebenslänglich" endende Prozeß die Groteske einer politisch gelenkten "Klassenjustiz" und die ganze Aktion überhaupt nur eine außenpolitisch motivierte "antifaschistische" Großkampagne der DDR-Führung war. Allein diese Mikroanalyse der konspirativen Inszenierung einer Hexenjagd, der sich der vom Reichtum seiner Quellen wie von Entdeckerfreude fortgerissene und nicht immer stilsichere Autor vielleicht etwas zu ausführlich widmet, liest sich streckenweise spannender als jeder Agententhriller.

Weniger geglückt ist die Ausleuchtung des cui bono. Wachs deutet nur an, daß Oberländer irgendwie "im Weg" stand. Das Ende des Kalten Krieges zeichnte sich zaghaft ab, ein Stimmungsumschwung zugunsten der "Vergangenheitsbewältigung" machte plötzlich "Gründungsmängel" der BRD sichtbar. In der CDU gewannen "Verzichtler" wie Johann B. Gradl, Ferdinand Friedensburg, Gerd Bucerius, Oberländers Feinde, an Einfluß. In der Evangelischen Kirche waren die Stimmen von Helmut Gollwitzer und Hans Joachim Iwand nicht mehr zu überhören, die für den angeblich "dauerhaften Ausgleich mit Polen" zur Preisgabe der preußischen Ostprovinzen rieten. Aus diesen zu knappen Verweisen auf den weltpolitischen Klimawechsel, dem Oberländer und sein ohnehin nur noch rhetorischer, gleichwohl nicht mehr akzeptabler "Revanchismus" geopfert wurden, ließe sich geradezu der – von Wachs sicher nicht insinuierte – Schluß ziehen, die Mielke-Inszenierung sei in Washington bestellt worden.

Später jedenfalls, nach Oberländers Rücktritt, kann Wachs eine west-östliche "antifaschistische" Kooperation am Beispiel von "Honeckers hilfreichem Helfershelfer" Bernt Engelmann, von 1977 bis 1983 Vorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller, lückenlos belegen. Engelmann verleumdete Oberländer mit den Anklagen aus dem Schauprozeß von 1960. Die bundesdeutsche Justiz verhalf nun aber dem MfS-Vertrauten Engelmann mit dem Argument zum Prozeßsieg, er habe sich bei der Wahrnehmung seiner berechtigten Interessen auf das "rechtstaatliche" DDR-Urteil verlassen dürfen! Nicht nur die eingangs zitierte "Neubewertung" der Vertreibung durch Richard von Weizsäcker zeigt, wie fundamental sich der Zeitgeist im Sinn des "Wandels durch Anbiederung" Mitte der achtziger Jahre bereits geändert hatte.

In diesem Kontext kann Wachs noch auf Publizisten wie Götz Aly verweisen, die Mielkes Agitprop-Gespinsten über 1989 hinaus Resonanz verschafften. Aly hatte den Königsberger Ordinarius Oberländer seit 1991 mehrfach zum Protagonisten jener "Vordenker der Vernichtung" stilisiert, die als "Berater der Macht" angeblich "Auschwitz" mitzuverantworten hatten. Aly gelang es immerhin, mit seinen Stasi-basierten Klitterungen eine bis heute aktuelle Debatte über die "Schuld" der intellektuellen Eliten im Dritten Reich anzustoßen (siehe JF 12/99). Wachs gebührt das Verdienst, diese Anwürfe destruiert zu haben. Seine klare Unterscheidung zwischen Oberländers Volkstumspolitik und Hitlers Lebensraumpolitik trägt dazu einiges bei. Diese divergierenden ostpolitischen Konzepte stehen sich dann während des Rußlandkrieges gegenüber, als Oberländer und zahlreiche Militärs wie Stauffenberg gegen den SS-Imperialismus ihr Credo behaupten, die Sowjetunion könne nur mit Hilfe der Völker besiegt werden, die unter Stalin gelitten hätten.

Wachs‘ Biographie klingt mit einem Satyrspiel aus: Die bundesdeutsches Justiz, nach dem Mauerfall von der "Rechtsstaatlichkeit" des Honecker-Regimes nicht mehr so überzeugt , ermittelte trotzdem mit Hilfe von MfS-Dossiers weiter wegen "Lemberg" gegen Oberländer. Erst einige Tage nach dessen Tod, Anfang Mai 1998, erreichte seinen Anwalt die Einstellungsverfügung der Kölner Staatsanwaltschaft. Nun hatten die westdeutschen SED-Sympathisanten endlich ein "Kronjuwel ihres antifaschistischen Mythenschatzes" verloren.

Wachs‘ "Lehrstück" demonstriert exemplarisch, in welchem Umfang fremdgespeiste Mythen das bundesdeutsche Bewußtsein formten, was westdeutsche "Sinnstiftung" und bewältigungsgestützte "Identität" simplen Aktenfälschungen verdanken. Theodor W. Adornos vielzitierter Satz vom wahren Leben, das es im falschen nicht geben könne, verstanden als Leitfaden zukünftiger zeitgeschichtlicher Erforschung der Bonner wie auch noch der Berliner Republik, läßt daher nichts Gutes ahnen.

 

Philipp-Christian Wachs: Der Fall Theodor Oberländer (1905–1998). Ein Lehrstück deutscher Geschichte, Campus Verlag, Frankfurt/M. 2000, 533 Seiten, 78 Mark


 
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