© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/00 16. Juni 2000

 
Die Macht der Gene
Eine neue Runde in einem alten Streit: Aktuelle Veröffentlichungen über die Grenzen der Erziehung
Janina Ahlers

Ist der Mensch ein Produkt seiner Erbanlagen, oder formen ihn die "gesellschaftlichen Verhältnisse"? In den siebziger Jahren, in der Hochzeit der Sozialwissenschaften, schien diese Frage – eine jener uralten vom Kaliber: Was war zuerst: die Henne oder das Ei? – gelöst: In der Euphorie des sozialliberalen Credos "Bildung für alle" glaubten Scharen von Pädagogen und Psychologen, den Einfluß biologischer Determinanten auf die Entwicklung der Persönlichkeit vernachlässigen zu dürfen.

Suzann-Viola Renninger und Klaus Wahl zeigen in ihrem Literaturbericht über jüngere Veröffentlichungen zum Verhältnis "Gene und Sozialisation" (Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, Heft 40/2000), daß sich das Blatt in den letzten zwanzig Jahren wohl in stauneswerter Weise gewendet hat.

Die Autoren stellen die wichtigsten angelsächsischen Publikationen zum Einfluß von Biologie und Umwelt vor, darunter die auch in deutscher Übersetzung vorliegenden Studien von Edward O. Wilson ("Die Einheit des Wissens", Berlin 1998), von Dean Hamer/Peter Copeland ("Das unausweichliche Erbe. Wie unser Verhalten von unseren Genen bestimmt ist", Bern/Wien 1998), Lawrence Wright ("Zwillinge, Gene, Umwelt und das Geheimnis der Identität", München 1998) und David C. Rowe ("Genetik und Sozialisation. Die Grenzen der Erziehung", Weinheim 1997). Jedes der präsentierten Werke unterminiere die traditionelle Sozialisationstheorie. Sie leisten daher ihren Beitrag zu einem Umschwung, "in dem sich der naturwissenschaftliche Blick auf die menschliche Entwicklung gegenüber der Perspektive anderer Disziplinen nachdrücklich in Erinnerung ruft".

In einer wissenschaftlichen Zeitschrift, die im linksliberalen Luchterhand Verlag erscheint, der den erziehungsoptimistischen Zeitgeist der siebziger und achtziger Jahre mit zahllosen Publikationen nährte, dürfen die Autoren jetzt ketzerisch vortragen: "Eine Überwindung des eher geisteswissenschaftlichen Menschenbildes, das sich in der Soziologie, der Pädagogik, aber auch in Teilen der Psychologie breitgemacht hat, ist sicher überfällig. Die Vorstellung vom rational man, der bewußt sein Handeln an der Vernunft orientiert und sich nicht durch spontanes, vorbewußtes un d emotionales Verhalten auszeichnet, entspricht nicht mehr dem aktuellen Stand der Forschung." Zur Bekräftigung kann Klaus Wahl auf sein soeben veröffentlichtes Werk verweisen ("Kritik der soziologischen Vernunft. Sondierungen zu einer Tiefensoziologie", Weilerswist 2000), das dem US-amerikanischen Trend folgt, einstigen Leitwissenschaften des "fortschrittlichen" Gesellschaftsumbaus mit wachsender Skepsis zu begegnen.

Welcher politische Sprengstoff in diesem Paradigmenwechsel steckt, machen die Autoren in ihren kurzen Referat des Buches von Lawrence Wright deutlich. Die Zwillingsforschung sei von den Nationalsozialisten aus genau dem Grund gefördert worden, der es den Sowjets geraten sein ließ, das Studium ererbter Fähigkeiten einzustellen: Die Resultate widersprachen dem marxistischen Ideal der Gleichheit von Geburt an. Der seit Josef Mengeles Zwillingsstudien in Deutschland hinlänglich diskreditierte, extreme politische Polemiken provozierende Forschungszweig wird von Wright rehabilitiert. Obwohl der angelsächsische Biologe letztlich "salomonisch" urteilt und den Einfluß des "Milieus" nicht zu niedrig veranschlagt, ist doch nicht zu überhören, daß die erwiesene Macht der Gene für ihn bedeutet, weniger Energie in Sozial- und Bildungsprogramme zu investieren.


 
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