© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/00 23. Juni 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Korrekturbedarf
Karl Heinzen

Der Erwartungsdruck, dem Abiturienten ausgesetzt sind, ist heute deutlich niedriger, als er noch vor fünfundzwanzig Jahren war. Zwar werden, so eine Studie der an der Universität Essen tätigen Bildungsforscher Klaus Klemm und Michael Weegen, 27,5 Prozent jedes Jahrgangs erfolgreich zum Abitur geführt – wenig genug, um sich noch einer Bildungselite zugehörig fühlen zu dürfen.

Doch nicht einmal die Hälfte der eigentlich zu Leistungsträgern Auserkorenen erreicht auch einen universitären Abschluß. 20 Prozent wollen grundsätzlich gar kein Studium aufnehmen. Die Zahl der Studienabbrecher ist auf durchschnittlich 40 Prozent angestiegen. In Elektrotechnik und Physik werden sogar 50, in den Wirtschaftswissenschaften sowie in der Informatik 60 und in der Mathematik schließlich der Spitzenwert von 70 Prozent erreicht.

Einer freien Gesellschaft steht es allerdings nicht an, sich über das Versagen des Staates zu beklagen, da sie anderes von ihm nicht erwarten durfte und aus ihr heraus auch nur wenig unternommen wurde, was hätte verhindern können, daß sich diese Vorahnung bewahrheitet. Da bildungspolitische Fehler überdies nur in langer Frist zu korrigieren sind, nützen Schuldzuweisungen sowieso wenig, wenn es gilt, sich auf den schon in den kommenden Jahren ins Haus stehenden "erheblichen Akademikermangel" vorzubereiten. Immerhin zeigt die Politik hier wenigstens den Willen, keine Tabus mehr zu akzeptieren, auch solche nicht, die in der Bevölkerung auf breite Zustimmung stoßen mögen. Die Green-Card-Debatte wird folgerichtig von den Essener Bildungsforschern nur als "ein erster Vorbote" für jene Lösungskonzepte gesehen, die bereits in naher Zukunft auf der Tagesordnung stehen dürften.

Wenn eine freie Gesellschaft nicht von sich aus korrigierend auf Entwicklungen einwirkt, ist dies ein untrügliches Indiz dafür, daß offenbar auch gar kein Korrekturbedarf besteht. Es sind also auch hier eher Einstellungen als Verhältnisse, die es zu ändern gilt. Zunächst heißt das, zu erkennen, daß Bildung ein Gut ist, das überall angeboten und nachgefragt werden kann. Jedem, der hier unzufrieden ist, steht es frei, seine Chance an ausländischen Universitäten zu suchen. Das Wissen und die Fertigkeiten, auf die es ankommt, weil sie am Markt einen guten Preis finden, müssen nicht an inländischen Universitäten erworben worden sein, damit hierzulande tätige Unternehmen etwas mit ihnen anfangen können.

Bildungsinvestitionen sind kostspielig, und niemand kann wissen, ob sie nicht zur Wirkungslosigkeit verurteilt sind, weil sich der akademische Nachwuchs vielleicht als zu unbegabt erweist. Deutschland darf sich im internationalen Standortwettbewerb nicht verzetteln. Anstatt unwiederbringlich verlorenes Terrain in der Bildungspolitik aufholen zu wollen, gilt es, die eigenen Stärken zu pflegen. Das sollten insbesondere diejenigen beherzigen, die jetzt um einen Rentenkompromiß ringen.


 
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