© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/00 30. Juni 2000

 
Mit Volldampf in die Neue Mitte
Parteien I: Die CDU unter Angela Merkel nähert sich zunehmend sozialdemokratischen Positionen an
Paul Rosen

Warum die Union in der Wählergunst derzeit mit 38 Prozent vor der SPD (36 Prozent) liegt, weiß die Parteivorsitzende Angela Merkel vermutlich selbst nicht. Denn das Erscheinungsbild der deutschen Bundestagsparteien ist mehr als paradox: Beherzt packt die Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder ihre Reformprojekte an: Die Steuerreform ist bereits vom Bundestag beschlossen und wird derzeit im Bundesrat und Vermittlungsausschuß beraten. Die Umstrukturierung der Bundeswehr ist so gut wie unter Dach und Fach. Und in der Rentenreform bemüht sich Schröder um einen Konsens mit der Opposition, um die Altersversorgung für die nächsten Jahrzehnte auf ein schmaleres, aber seiner Ansicht nach sicheres Fundament zu stellen. Und obwohl die rot-grüne Koalition ihre Gesetzesvorhaben bis zur Verabschiedungsreife vorangetrieben hat, sinkt sie in der Wählergunst. Die CDU, die seit dem Ende der Spendenaffäre zu keiner klaren Position mehr gefunden hat, steigt in den Umfragen, obwohl die Wähler nicht wissen, wofür die Opposition eigentlich steht.

Was Frau Merkel genau will, wird trotz zahlreicher Strategiegespräche mit der bayerischen Schwesterpartei CSU und nachfolgenden Pressekonferenzen nicht klar. Irgendwie scheint sie – wie der Kanzler – von einer "neuen Mitte" zu träumen, auf deren Feld sie die Sozialdemokraten stellen will. Mit Interesse haben führende Christdemokraten die Resultate der Wahlforscher von der nordrhein-westfälischen Landtagswahl gelesen, bei der die CDU nur ihren Stand von vor fünf Jahren halten, aber kein Butterbrot hinzugewinnen konnte. Die ausgebliebenen Zuwächse wurden mit den Nachwehen der Spendenaffäre begründet.

Mit Frohlocken nahmen Teile der CDU-Spitze dagegen Behauptungen zur Kenntnis, die alten Rechts-Links Schemata hätten bei der NRW-Wahl nicht mehr gegriffen. Die Leute seien immer mehr zu Wechselwählern geworden, und sie verlangten überzeugende Konzepte für die Zukunft.

Eines haben die CDU-Strategen nicht begriffen: Bei dem wenig zugkräftigen NRW-Spitzenkandidaten Jürgen Rüttgers glaubten selbst viele eingefleischte CDU-Wähler nicht mehr, daß ihre Partei noch eine Chance auf den Wahlsieg hatte. Von Rüttgers wußte man früher nicht, wofür er stand, und genausowenig, wo er heute steht. Die "Kinder-statt-Inder"-Kampagne wirkte halbherzig und wurde zudem von großen Teilen der eigenen Partei konterkariert. So zog es viele traditionelle CDU-Wähler zur FDP und ihrem agilen Landesvorsitzenden Jürgen Möllemann, dem man die Stimme gab, um eine Neuauflage der rot-grünen Koalition in Düsseldorf zu verhindern. Genauso verhielten sich traditionelle Sozialdemokraten, denen die arbeits- und wirtschaftsfeindliche Politik der Grünen ein Greuel ist. Man wählte das kleine Übel FDP, um das große Übel der grünen Regierungsbeteiligung zu verhindern.

Die CDU-Spitze destillierte aus diesem rein taktischen Wählerverhalten, das sich bei den nächsten Urnengängen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewiß nicht mehr wiederholen wird, jedoch einen neuen Typ des Wechselwählers, um den es zu buhlen gelte. Negierend, daß auch Stammwähler sich anders orientieren könnten, loten Frau Merkel und ihr Generalsekretär Ruprecht Polenz, ein Mann mit stets modernen und zeitgeistnahen Positionen, den Spielraum für die neue CDU aus. Man glaubt sich des bisherigen Wählerreservoirs sicher und setzt auf die "Neue Mitte". Dabei wird ebenfalls übersehen, daß es Schröders SPD bei der letzten Bundestagswahl schon einmal gelang, tief in den kleinen Mittelstand einzubrechen – seitdem die FDP diesen Bereich geräumt hat, waren zum Beispiel die Inhaber kleiner Handwerksbetriebe die treuesten CDU-Wähler. Wenn die CDU diesen Bereich aufgibt, könnte die SPD, aber auch eine andere, vielleicht neue Partei hier Erfolge feiern.

Erste Trends hatten sich bereits im letzten Jahr unter dem Vorsitzenden Wolfgang Schäuble abgezeichnet, als die CDU versuchte, eine neue Familienpolitik zu kreieren – unter dem Grundsatz, man müsse endlich die Realitäten in Deutschland zur Kenntnis nehmen. Familie sei überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern Verantwortung übernehmen würden, heißt es bei der CDU seitdem ähnlich wie bei der SPD. Und die CDU schrieb ausgerechnet noch in ein Familienpapier, daß sie homosexuelle Lebensgemeinschaften respektiere.

Seit dem Wechsel von Schäuble zu Merkel ist eine Inflation an Papieren nicht zu übersehen. Polenz legte ein Papier zur inneren Sicherheit vor, in der der Prävention ein starkes, nach Ansicht von Kritikern ein zu starkes, Gewicht gegeben wird. So soll Familien bei der Erziehung geholfen werden, daß ihre Kinder nicht in die Kriminalität abgleiten. Damit schimmert bei den Christdemokraten ein ähnlich familienkritisches Bild durch wie bei den Sozialdemokraten. Der Familie wird zunächst erst einmal grundsätzlich mißtraut, daß sie mit den Aufgaben der Erziehung fertigwerden könnte. Vom Anbieten einer sozialpädagogischen Hilfe bis zum Eingreifen, ehe es notwendig ist, ist es nur noch ein kleiner Schritt.

Offenbar mit wohlwollender Duldung der Vorsitzenden Merkel legte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach ein Konzept zur Ausländerpolitik vor, in dem die Zuwanderung nach Deutschland als "Bereicherung" gepriesen wurde. Natürlich hatte Bosbach auch alle bisherigen CDU-Positionen in sein Papier geschrieben, zum Beispiel die Forderung nach Verknüpfung der durchaus gewünschten Zuwanderung von Spezialisten bei gleichzeitiger Senkung der Zahl der Asylbewerber und der Änderung des Asylgrundrechtes in eine nur noch institutionelle Garantie. Das in Auszügen vor der Beratung bei einer Fraktionsklausur in Luckenwalde bekannt gewordene Papier ließ in der Öffentlichkeit den Eindruck aufkommen, bei der Union deute sich eine Kehrtwende in der Ausländerpolitik an.

Die wütende CSU, mit der das Papier vorher nicht abgestimmt war, kippte die umstrittensten Passagen wieder heraus. Auch in der CDU regte sich Protest. Ein Einwanderungsgesetz werde von den CDU-Wählern nicht gewünscht, zeigte sich der frühere niedersächsische Justizminister Hans-Dieter Schwind überzeugt. Die CDU werde große Teile ihrer Klientel verlieren, wenn sie so weitermache, beklagte Schwind.

Die mangelnde Professionalität der neuen CDU-Spitze im Umgang mit Papieren läßt schneller als sonst klar werden, daß sich die Partei tatsächlich auf einer Wanderung über eine Werteneutralität zu sozialdemokratischen Positionen befindet. Offiziell wird zwar so getan, als lehne man die Positionen der sozialdemokratisch geführten Regierung ab und versucht damit, den Unmut der vielen Unzufriedenen wie Wasser auf die eigenen Mühlen zu lenken. Aber in der Beschlußlage von Partei und Fraktion zeigt sich durch Schwerpunktsetzungen, daß der Trend nach links nicht von der Hand zu weisen ist. Ohne Not sind konservative Wurzeln abgehackt worden, indem den Homosexuellen hofiert und die Einwanderung als Bereicherung gepriesen wird. Wer den Zustrom aus aller Welt lobt, wirkt nachher allerdings zu unglaubwürdig, um noch ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz zu fordern. Die von Frau Merkel angestrebte "inhaltliche Erneuerung" muß daher zwangsläufig zu einer mehr nach links driftenden CDU führen.

Bei der Steuerreform führt der Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz noch Rückzugsgefechte. Merz hat als einer der wenigen begriffen, daß Rot-Grün über das Steuerrecht gesellschaftliche Veränderung betreiben will. Während Unternehmensgewinne noch als positiv betrachtet werden, soll der Verdienst der Unternehmer oder Aktionäre mit höheren Steuern als der Verdienst von Arbeitnehmern belegt werden. Daß hier der Ungerechtigkeit Tür und Tor geöffnet wird, betrachtet jedoch die Pateivorsitzende Merkel mit großer Gelassenheit. Vielleicht haben die Jahrzehnte ihrer Zugehörigkeit zum real existierenden Sozialismus doch tiefere Spuren hinterlassen, als man zunächst glauben mochte.

Ein ähnliches Bild bietet die Union in ihrer Haltung zur Rentenversicherung. Der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel (SPD) hatte kürzlich in einer für SPD-Leute ungewohnten Klarheit ausgesprochen, daß die Armut rückwärts gewandert sei – von den Rentnern zur Generation junger Familien. Diese Familien mußten dann auf die einzig mögliche Weise sparen: Sie setzten weniger Kinder in die Welt. Die Folge ist schließlich das heutige Geburtendefizit. Die SPD setzt dem ein radikales Konzept entgegen, indem sie die Renten in Zukunft stark kürzen und damit diejenigen bestrafen will, die sich früher aus finanziellen Gründen nicht mehr Kinder leisten konnten. Die CDU macht – wenn auch halbherzig – mit.

So bietet die Union in diesen Tagen keine programmatische Geschlossenheit, sondern die reinste Kakophonie an. Wolfgang Gerhardt, der Chef der FDP, fand dafür in seiner Rede auf dem Nürnberger Liberalen-Parteitag ein treffendes Bild: "Die CDU hat ihr Schaufenster mit Angela Merkel dekoriert. Aber keiner beantwortet die Frage, was eigentlich verkauft werden soll."


 
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