© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/00 30. Juni 2000


Das Eiserne Kreuz am Revers
Baltikum: Drei Selbstbewußte Nationen – Die Ostseerepubliken gedachten der Verbrechen der Sowjetzeit
Carl Gustaf Ströhm

Zu den schwer erklärbaren Seltsamkeiten der europäischen Medienszene gehört die "selektive Wahrnehmung" – ob bewußt oder unbewußt. So blieben einige Ereignisse, die sich im Juni im Baltikum abspielten, der westlichen Öffentlichkeit verborgen.

Kein westliches Medium war anwesend, als der estnische Präsident Lennart Meri in der kleinen Küstenstadt Hapsal die Parade der freiwilligen militärischen Selbstschutzorganisation "Kaitseliit" – einer Art bewaffneten Miliz – abnahm. Der Präsident versuchte bei seiner Rede das Selbstbewußtsein der Esten zu stärken: "Wir sind heute stärker als wir vor zehn Jahren erwarten konnten. Wir haben Freunde in Europa und Amerika gewonnen. Wir erfüllen erfolgreich das Programm zum Nato-Beitritt. Wir haben das Niveau unserer Streitkräfte gesteigert. Wir haben internationales Vertrauen gewonnen und haben unser Selbstvertrauen zurückgewonnen."

Wie in jedem Jahr marschierten an der Spitze der Parade hunderte älterer Herren in militärischer Haltung am Präsidenten vorbei und wurden von der zuschauenden Bevölkerung mit besonderem Applaus bedacht: die estnischen Veteranen des Zweiten Weltkrieges, die gemeinsam mit den Deutschen 1944 die Narwa-Front vor Leningrad verteidigt hatten. Einige estnische Offiziere trugen auf ihren Uniformen das deutsche Eiserne Kreuz und das Infanterie-Sturmabzeichen. Ein älterer Oberstleutnant, der Jahre seines Lebens im sowjetischen Gulag verbringen mußte, sagte, er sei stolz auf diese Auszeichnungen.

Für die überwältigende Mehrheit der Esten war der 8. Mai 1945 kein Tag der Befreiung sondern der Knechtschaft und der tödlichen Bedrohung der nationalen und menschlichen Substanz durch das Sowjet- Regime und die großrussische Überflutung des Landes. Der 14. Juni – der Jahrestag, an dem 1941 Zehntausende von Esten, Letten und Litauern gewaltsam durch die sowjetische Geheimpolizei nach Sibirien und in die Arktis deportiert wurden, wird im Baltikum als Tag der Trauer begangen.

Neben einer internationalen Konferenz, die Estlands Ministerpräsident Mart Laar an diesem Tag nach Tallinn/Reval eingeladen hatte (die JUNGE FREIHEIT berichtete) fand auch in der litauischen Hauptstadt Vilnius/Wilna eine Parallelveranstaltung statt, zu der auch Polens Ex-Präsident Lech Walesa erschienen war. Hier erklärte der Chef des Verbandes der litauischen politischen Gefangenen und Deportierten, Povilas Jakucionis, Litauen habe während der Sowjet-Okkupation ein Drittel (!) seiner Bevölkerung durch Ermordung, Deportation und Emigration verloren. "Der Kommunismus ist die schlimmste kriminelle Ideologie der Welt. Er sollte ebenso verboten werden, wie die Nazi-Ideologie", sagte Jakucionis.

Der ehemalige sowjetische politische Häftling Felix Krasawin, der jetzt in Israel lebt, erklärte wörtlich: "Ich vertrete die ehemaligen russischen politischen Häftlinge. Es ist uns, die wir jetzt in den USA, Australien und Israel leben, wichtig, am Kampf gegen ein immer noch gefährliches Untier teilzunehmen."

Der Gast aus Israel fuhr fort: "Der sowjetische Faschismus hat mehr Menschen ermordet als sein deutscher Bruder. Die Lügen des sowjetischen Faschismus waren um vieles größer als jene des deutsche Faschismus". Ariel Cohen, ein Rußland-Experte aus den USA, sagte, kommunistische Verbrechen sollten der Welt ebenso bekanntgemacht werden wie der Holocaust.

Walesa, der 1980 die "Solidarnosc" gegründet hatte, warnte: dem Westen seien die kommunistischen Verbrechen gleich. Der Nazismus sei vor allem im Westen verbreitet gewesen, der Kommunismus im Osten – und das sei der Grund, so Walesa, warum sich der Westen mehr auf die Untaten der Nazis als der Kommunisten konzentriere.

Zu einer bewegenden Szene kam es, als der russische Duma-Abgeordnete, ehemalige Dissident und frühere Tschetschenien-Beauftrage für Menschenrechte, Sergej Kowaljow, das Wort ergriff und über seine russischen Landsleute sagte: "Wenn wir unsere Schuld nicht begreifen, werden wir niemals einen Sieg über kannibalische Ideologien erringen. Wir nahmen in den dreißiger Jahren unter Stalin an Demonstrationen zur Unterstützung der damaligen Massentötungen teil. Wir sind schuldig. Es war meine Nation, welche die baltischen Länder okkupierte." – "Bitte, vergebt uns", so Kowaljow. Scharf kritisierte er die Beschwichtigungspolitik westlicher Regierungen gegenüber Moskau. Die weiche Haltung des Westens ermutigte nur die antidemokratischen Kräfte in Moskau.

"Clinton und Kohl hätten den ersten russischen Feldzug gegen Tschetschenien nicht in zwei Jahren, sondern in zwei Monaten stoppen können", erklärte Kowaljow. "Aber sie wollten den Ruf Boris Jelzins nicht beschädigen." Fast resigniert fügte er hinzu: "Jetzt haben wir einen KGB-Oberst an der Spitze unseres Staates."

In den kommenden zehn Jahren würde es zu einer Stärkung der totalitären Tendenzen im Kreml kommen, prophezeite Kowaljow. Aber er hoffe, daß nach 15 Jahren eine neue Generation in Moskau am Ruder sein werde. Diese werde dann mit der "Europäisierung" Rußlands beginnen.

Vytautas Landsbergis, einer der Kämpfer für Litauens Unabhängigkeit, Ex-Staatspräsident und heute litauischer Parlamentspräsident, sagte am Schluß: "Die Welt will nichts von kommunistischen Verbrechen hören. Manchmal wird gesagt, daß wir – wenn wir gegen den Kommunismus auftreten – gegen Rußland Stellung nehmen. Im Gegenteil: Wir sprechen für ein demokratisches Rußland. Wir sollten Rußland nicht als hoffnungslosen Staat betrachten, obwohl in seinem Namen im Kaukasus Verbrechen begangen werden. Laßt uns Vertrauen haben in die Zukunft von Rußland und Weißrußland!"

Wie schon gesagt: Es ist einigermaßen verblüffend, daß solche europäische Diskussionen und Stellungnahmen in den westlichen Medien keinerlei Widerhall finden – als gebe es für manche Länder, die einst hinter der (Berliner) Mauer lebten, eine neue, diesmal unsichtbare Mauer des Schweigens.


 
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