© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
"Wir werden nicht Gott spielen"
Der Genom-Forscher Hrabé de Angelis über einen kleinen Schritt in der Genetik und eine großen Schritt für die Menschheit
Moritz Schwarz

Herr Dr. Hrabe de Angelis, seit vorvergangenem Montag gilt das menschliche Erbgut, das Genom, offiziell als entschlüsselt. Was genau wurde da eigentlich entschlüsselt?

Hrabé de Angelis: Im Prinzip ging es darum die Abfolge der Grundbausteine unseres Genoms, also unseres Erbgutes vollständig zu erfassen und aufzuschreiben. Die Grundbausteine unseres Genoms sind die vier Basenpaare A, C, G, und T. Unser Genom besteht aus etwa drei Milliarden solcher Bausteine. Das ergibt, um Ihnen ein Bild zu geben, eine Informationsmenge von zweihundert Bänden eines fünfhundertseitigen Telefonbuches. Die in unseren Genen enthaltenen Informationen einmal alle in dieses zweihundertbändige Werk hineingeschrieben und damit quasi endlich eine Gesamtdarstellung "schwarz auf weiß" vor sich zu haben, ist die Leistung des Humangenomprojektes. Doch das ist nur der erste Schritt. Denn wir haben jetzt zwar einmal alles aufgeschrieben, doch in den "Büchern" steht nur Buchstabensalat, denn was genau in dem "Text" drinsteht, ist immer noch weitgehend unbekannt. Nur einige wenige der vielen Gene, also nur einige ausgewählte Stellen in diesem "Buch" verstehen wir überhaupt inhaltlich.

Dann kann doch von Entschlüsselung eigentlich noch keine Rede sein. Genaugenommen haben Sie doch "nur" eine Transskription vorgenommen. Sie haben aufgeschlüsselt statt entschlüsselt?

Hrabé de Angelis: Der Begriff "entschlüsseln" ist tatsächlich irreführend. Jetzt fängt die zweite Phase des Humangenomprojektes an, nämlich die Funktionen der Gene zu analysieren: "Was steht in diesen Büchern?" Das Verstehen wird nun ein Arbeitsprozeß von vielleicht zwanzig bis fünfzig Jahren sein.

Wie lange wurde denn bisher geforscht, um diesen Punkt zu erreichen?

Hrabé de Angelis: Das hat jetzt zehn Jahre gedauert. Allerdings war das eine ansteigende Kurve, am Anfang ging es sehr langsam. Dann beschleunigten sich die Fortschritte, auch weil die Technologie unterwegs mitentwickelt worden ist.

Kam die Initiative dazu aus der Politik?

Hrabé de Angelis: Nein, aus der Wissenschaft. Die Wissenschaft hat erkannt, daß es notwendig ist, um zu verstehen, was molekular in unserern Körpern vor sich geht, die Sequenz, also die Abfolge, der Gene aufzuschlüsseln. Also hat man sich hingesetzt und sich diese Arbeit vorgenommen. Dazu wurden Anträge geschrieben, und die wurden dann von Regierungsseite finanziert. Die internationale Venetzung des Projektes resultiert natürlich aus dem Interesse von Forschern überall auf der Welt an dieser Frage. Außerdem wurde bald klar, daß die Aufgabe für ein Land alleine zu groß ist. So entstand ein Konsortium, das aufgeteilt hat, wer welchen Bereich sequenziert.

Wenn Sie aber zu der Arbeit schon vor zehn Jahren in der Lage waren, dann ist es doch gar kein technologischer Durchbruch gewesen, sondern nur eine Frage der Zeit?

Hrabé de Angelis: Zum Teil ist das wohl richtig, es war aber auch eine enorme Ingenieurs-Leistung: Die gesamte Aufgabe zu bewältigen und die Informationen in entsprechende Datenbanken zu packen. Sicherlich aber beginnt jetzt erst, die eigentliche Arbeit im Sinne eines biologischen Verständnisses.

Welches Wissen wird sich uns eröffnen?

Hrabé de Angelis: Die künftige Forschung wird nun das Wissen bringen, das wir brauchen, etwa um Krankheiten zu verstehen. Stellen Sie sich das so vor, als hätte man noch keine Kenntnis über Anatomie, würde aber dennoch operieren. In diesem Stadium befinden wir uns in bezug auf die molekularen Gegebenheiten unseres Körpers. Um da den entscheidenden Schritt voranzukommen, ist diese Sequenz so wichtig. Es ist also schon gerechtfertigt, daß die Ergebnisse jetzt so an die große Glocke gehängt werden.

Das jetzige Ergebnis bietet die Grundlage, aber selbst noch keine neuen Handlungsmöglichkeiten?

Hrabé de Angelis: Doch, denn ein Keller ist zwar eine Grundlage für ein Haus, hat aber selbst auch eine Funktion. Sicher geht es aber jetzt darum, die folgenden Stockwerke draufzusetzen. Wir arbeiten in verschiedenen Gruppen im Deutschen Humangenomprojekt, und unsere Sequenzierungs-Ergebnisse werden von anderen Gruppen im Projekt direkt verwertet.

Aber aufgrund dieser Ergebnisse können Sie noch nicht in das Genom direkt eingreifen, so wie das von der Öffentlichkeit verstanden wird?

Hrabé de Angelis: In einigen wenigen Bereichen können wir das bereits. An Mäusen, weil die dem Menschen genetisch sehr ähnlich sind, testen wir das. Wir schalten bestimmte Gene in ihnen ab oder "überdosieren" sie, um deren Funktionen zu testen. Diese bereits seit vielen Jahren gehandhabte Methode erhält jetzt durch die Sequenzierung eine ganz neue Grundlage.

Wie ging die Arbeit im Projekt vor sich?

Hrabé de Angelis: Das Genom wurde quasi in viele kleine Stücke zerhackt, und jede Gruppe erhielt einen bestimten Teil zur Sequenzierung. Wichtig war vor allem, danach die Einzelteile wieder in der richtigen Reihenfolge zusammenzusetzen.

Es heißt das Genom sei zu 97 Prozent "entschlüsselt". Was bedeutet das?

Hrabé de Angelis: Dieses korrekte Wiederzusammenfügen ist jetzt zu 97 Prozent abgeschlossen. Die Buchstabenabfolge ist dabei zu 85 Prozent abgelesen worden. Craig Venter der kommerzielle Konkurrent des Human-Genom-Projekts, hat übrigens das Genom in noch viel, viel kleinere Stücke zerhackt. Und einige Wissenschaftler meinen jetzt, diese seien zu klein, um je wieder zusammengesetzt werden zu können. Allerdings kann Venter auf unsere Datenbanken zugreifen, denn wir betreiben ja eine freie Forschung, deren Ergebnisse stets sofort im Internet veröffentlicht werden und somit der ganzen Menschheit zur Verfügung stehen.

Teilen Sie diese Kritik an Venter?

Hrabé de Angelis: Nein, das ist keine Kritik. Denn die Leistung, die er gebracht hat, ist enorm. Und es gab wohl durch seine Anstrengungen auch einen Schub für die akademischen Bemühungen. Konkurrenz belebt das Geschäft. Vielleicht ist es unsportlich, daß er unsere Daten lesen kann, wir aber nicht seine, aber das ist alles legal. In Zukunft werden beide Projekte wohl enger zusammenarbeiten.

Man hat komischerweise den Eindruck wie bei den Herrren James Bond und Dr. No: ein Einzelner fordert die Weltgemeinschaft heraus. Ist die Genetik vielleicht eines der letzten Felder, auf denen der klassische Forscher-und Entdecker-Einzelkämpfer sich noch gegen die großen staatlichen Systeme behaupten kann und will?

Hrabé de Angelis: Nein, Venter ist ja kein einzelner Forscher mehr, da steckt ein Imperium dahinter. Hunderte von Mitarbeitern und ein zusammengekaufter hoch modernen Maschinenpark.

Befinden wir uns mit diesem Fortschritt in einem neuen Zeitalter, ist das eine kulturell Zeitenwende?

Hrabé de Angelis: Es ist bestimmt nicht einfach ab heute alles anders. Aber wir tauchen doch wohl in eine Zeit ein, die das Menschenbild verändern wird. Und zwar dahingehend, daß viele Dinge, die man bisher als unerklärbar hingenommen hat, nun molekular zu verstehen sein werden. Solch eine Erfahrung ist aber nichts neues in der Menschheitsgeschichte, denken Sie an die Zeit der Aufklärung, als man ebenfalls einen Schritt aus einem mythischen hinein in ein rationales Bild getan hat.

Was werden wir in Zukunft tun können?

Hrabé de Angelis: Wir werden wohl künftig dazu in der Lage sein, längerfristig den Menschen genetisch zu verändern. Das ist der Punkt, an dem sich eine Gesellschaft überlegen sollte, was sie macht und warum sie es macht. Ich halte nichts von dem Postulat einiger Wissenschaftler, dies sei der "achte Tag der Schöpfung". Wir werden einige Krankheiten heilen können, aber nicht Gott spielen. Aber viel naheliegender als die Frage nach dem perfekten Menschen ist zum Beispiel: Wie werden unsere sozialen Systeme, etwa Versicherungsgesellschaften oder Arbeitgeber mit den neuen Möglichkeiten umgehen? Man muß sich sowohl der Gefahren bewußt sein, als auch der Chancen, etwa daß die Medizin auf ein ganz neues Niveau gehoben werden wird.

Wird sich unser Selbstbild als Mensch groß verändern?

Hrabé de Angelis: Es könnte schon zu einer großen Ernüchterung führen, wenn sich viele Dinge, die man bislang als typisch menschlich empfunden hat, plötzlich auf eine stoffliche Ebene reduzieren lassen. Dabei bin ich aber kein Anhänger des mechanistischen Denkens. Ich glaube an Gott und denke, daß wir die letzten Dinge nicht erklären werden können.

Aber ist das nicht die zwangsläufig Folge, daß wir den Menschen relativieren?

Hrabé de Angelis: Das muß ja nicht schlecht sein. Vielleicht wäre ihm das in mancher Beziehung auch ganz zuträglich. Die Menschen sind schon sehr egomanisch geprägt. Es bleibt die Hoffnung, daß der Mensch durch einen Zuwachs an Erkenntnis die Dinge relativieren und dadurch vernünftiger einschätzen kann.

Welche Rolle spielt Deutschland bei dem Projekt?

Hrabé de Angelis: Nehmen Sie einfach mein Beispiel: Ich bin 1994 aus Deutschland weg und in die USA gegangen, weil es hier sehr schwierig war diese Art der Genom-Forschung zu betreiben. Ich bin dann 1997 zurückgekommen, um hier als Projektleiter im Deutschen Human-Genom-Projekt einzusteigen. Die Sicht der Bevölkerung hat sich schon etwas geändert. In meinen Augen ist sie zum positiven hin differenzierter geworden, so daß die Genomforschung vor allem im Gesundheitsbereich doch mehr Akzeptanz gefunden hat. In der breiten Öffentlichkeit gibt es inzwischen nicht nur Verständnis, sondern sogar den Wunsch, daß in diesem Bereich etwas passiert. Dennoch aber bleibt das schlechte Image der Genomforschung in Deutschland. Die Politik spiegelt das natürlich wider. Die jetzige Regierung wird sich wohl nicht groß auf die Fahnen schreiben: Wir unterstützen großzügig die Genforschung. Nichtsdestotrotz kommt die sogenannte Biotech-Industrie jetzt auch in Deutschland. Da entstehen auch bei uns, wie in Amerika, neue Arbeitsplätze. Und in bezug auf die Genomfunktionsanalyse sind wir international auch gar nicht so schlecht positioniert. Da sind wir durchaus konkurrenzfähig.

Sind das jetzt einzelne Höhepunkte oder ist Deutschland tatsächlich entsprechend im internationalen Human-Genom-Projekt vertreten?

Hrabé de Angelis: Das Problem ist, wir sind vor allem unterfinanziert. Ich möchte ein Beispiel geben: Das Projekt, das wir hier durchführen, wird jetzt auch von den Amerikanern aufgegriffen. Bisher waren wir in diesem Bereich führend, aber die Amerikaner finanzieren es mit dem zehnfachen an Geld.

Das heißt die deutsche Wissenschaft hat durchaus den Anschluß, nur sind die Bedingungen hier schwieriger? Die Stimmung, Sie sagten es, ändert sich, werden in Zukunft dann auch mehr Mittel fließen?

Hrabé de Angelis: Ich hoffe es. Wir sind in Kontakt mit der Politik, und ich glaube auch bei Rot-Grün werden langsam die Chancen und Möglichkeiten dieser Technologie erkannt.

Wie sieht es mit der Struktur in Deutschland aus: Sind bei uns nicht traditionell viele kleine Projekte dabei, vor sich hinzuwerkeln, während in Amerika die Unternehmungen geballter zusammengefaßt sind?

Hrabé de Angelis: Das ist richtig, und ich glaube, darauf wird auch reagiert werden. Man muß Kompetenzzentren schaffen. Also größere Einrichtungen, in die massiv investiert wird, und diese müssen dann auch international mit Spitze sein. Und nebenher sollten kleinen Projekte gefördert werden.

Spielt Europa im "Gen-Konzert" der großen Drei – Amerika, Europa, Japan – die Rolle, die es spielen sollte?

Hrabé de Angelis: Europa ist inzwischen recht stark geworden in der Genforschung. Gerade auch England. England und Deutschland sind dabei die europäischen Zugpferde. Innerhalb Europas wird über EU-Projekte recht eng zusammengearbeitet.

Wie ist das Verhältnis zwischen den großen Drei?

Hrabé de Angelis: Die Konkurrenz ist sehr fruchtbar, und in vielen Bereichen wird auch schon eng zusammengearbeitet. Eine Art Globalisierung der Wissenschaft.

Müssen wir nicht befürchten, daß sich der ganze Fortschritt in diesem Bereich nach Amerika verlagert und wir von dort versorgt werden?

Hrabé de Angelis: Diese Sorge habe ich schon, denn hinter dieser Forschung steht in Zukunft ein großer Wirtschaftsfaktor, und dann treten ganz neue Lobbyisten auf den Plan. Und da müssen wir schon sehr aufpassen, daß wir uns künftig richtig positionieren.

 

Dr. Martin Hrabé de Angelis geboren 1964 in Gießen. Dozent an der TU München und Direktor des Instituts für experimentelle Genetik im GSF – Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, sowie Vorsitzender des wissenschaftlichen Koordierungs-komitees des Deutschen Humangenomprojektes. Im Rahmen seiner Tätigkeit für das GSF – Forschungszentrum war Hrabê de Angelis direkt an der "Entschlüsselung" des menschlichen Erbgutes durch das internationale Humangenomprojekt beteiligt.

Deutsches Humangenomprojekt: Das DHGP ist Bestandteil des internationalen Humangenomprojektes und besteht aus 42 Einzelprojekten an verschiedenen Forschungseinrichtungen in Deutschland. Seine Aufgabe ist die "Entschlüsselung" des menschlichen Erbgutes, des Genoms.

 

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