© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
Pankraz,
Brendan Behan und der Geisel-Schwindel

Deutscher Reporter auf der philippinischen In-sel Jolo als Geisel genommen", melden die Agenturen. Wieso Geisel? Der Mann ist doch offenbar einfach gekidnappt worden, wahrscheinlich um Lösegeld zu erpressen. Er ist das Opfer von Gangstern, die sich an kein Gesetz halten. Ihn in den Medien als Geisel hinzustellen, erweist den Verbrechern eine Ehre, die sie nicht verdienen.

Aber solche unverdienten Ehrbezeigungen sind ja leider Mode geworden, seitdem linke Terroristen in der 68er Zeit Diplomaten, Flugzeugpassagiere oder auch wahllos von der Straße weggeholte Passanten gefangensetzten und permanent mit dem Tod bedrohten, um dadurch etwa verurteilte Kumpane "freizukämpfen". Die Terroropfer wurden frech als "Geiseln" deklariert, und die Medien sind dieser Sprachregelung widerstandslos gefolgt, obwohl damit ein uraltes Rechtsgut zivilisierter Staaten den Bach hinunterging.

In alten Zeiten war Geiselnahme ein völlig legitimes Mittel zur Friedens- und Rechtserzwingung gewesen, gedeckt von der herrschenden Tugendanschauung und penibel umschrieben von allgemein akzeptierten Gesetzestexten. Eine Geisel war eine Person, die mit ihrem Eigentum und manchmal auch mit ihrem Leben für die Erfüllung von Pflichten einer anderen Person einstand, und zwar oft freiwillig. Die Geiselnahme kam sowohl im politischen wie im Wirtschaftsleben vor und ist in letzterem erst sehr spät durch die Einführung der sogenannten schuldrechtlichen Bürgschaft abgelöst worden.

Persische Großkönige, griechische Stadtstaaten und römische Senate nahmen die Häuptlingssöhne unterworfener Barbaren als Geiseln, um sie in ihrem Sinne zu erziehen und zu pazifizieren; daß solche Geiseln je umgebracht worden wären, wird von den Pandekten nicht überliefert. In der Haager Landkriegsordnung der abendländischen Neuzeit war die Gestellung von Geiseln zur Sicherung gegen Sabotageakte und Mordanschläge in besetzten Regionen ausdrücklich vorgesehen. Eine Besatzungsmacht durfte Angehörige des besetzten Landes festnehmen und auch deren Tötung bei schwerer Verletzung des Kriegsrechts durch die Gegenpartei androhen und eventuell exekutieren.

Erst der "moderne, revolutionäre Volkskrieg", das absichtliche Ignorieren aller humanen Verabredungen zwischen kriegführenden Staaten durch ideologisch motivierte Freischärler und Partisanen, hat diese Regeln außer Kurs gesetzt und ins Paradox verkehrt. Vor allem kommunistische Partisanenführer benutzten nun das Vorhandensein der Geiselgesetze planmäßig zur Provokation der Besatzungsmacht. Diese sollte "entlarvt" und zur grausamen Überspannung der Gesetze getrieben werden – was vielerorts nur allzu gut gelang. "Rechtsgeiseln" verwandelten sich unversehens in "Vergeltungsgeiseln", an denen die Besatzungsmacht blindwütig Rache nahm für grausame Partisanenaktionen.

Folgerichtig hat das Genfer Abkommen von 1949 daraufhin die Geiselnahme für unzulässig erklärt. Doch damit war das Problem keineswegs gelöst, im Gegenteil, es geschah eine Verlagerung des Geiselnehmertums aus der Legalität ins Illegale. Was die Staaten nicht mehr taten, das taten jetzt Partisanen, Terroristen und Schwerverbrecher jeglicher Couleur, "Volksbefreiungsfronten", Untergrundarmeen, Drogenkartelle und schlichte Erpresserbanden, Sparkassenräuber und Ausbrecherkönige.

Geiselnahme wurde, wie so vieles andere in diesen unseren neoliberalen Zeiten, zum Geschäft, zum finanziellen Großkalkül. Und die Medien waren natürlich immer mit von der Partie. Chefredakteure von Boulevardzeitungen stiegen in die Autos von "Geisel"-Gangstern, um ihnen "den Weg zu zeigen" und dabei gleichzeitig mit versteckten Minikameras die Todesnot der mitfahrenden "Geiseln" abzufilmen. Angehörige der "Geiseln" schlossen lukrative "Exklusivverträge" mit großen Illustrierten und Magazinen ab. Die Medienleute spielten sich als "Vermittler" zwischen Gangstern und Behörden auf.

Mit der Verschleppung des Spiegel-Reporters Andreas Lorenz ist offenbar eine weitere Eskalationsstufe in der Kriminalisierungsgeschichte des Geiselwesens erreicht – und vielleicht eine Klimax, jenseits derer sich die Dinge wieder etwas entspannen könnten. Die "Geisel"-Gangster respektieren die Vermittlerrolle der Medienvertreter nicht (weil sie eben überhaupt nichts Gesetzmäßiges oder auch nur Regelhaftes respektieren). Für sie sind Medienvertreter nicht, wie diese es gern hätten, "neutrale Instanz", "reine Beobachter", die jenseits von Gut und Böse für optimale Information und kuschlige abendliche Fernsehunterhaltung sorgen, sondern lediglich zusätzliche "Geiseln", aus denen man zusätzlichen Profit schlagen kann.

Vielleicht ziehen die Medienvertreter daraus eine Lehre und drängeln sich in Zukunft weniger vor, verzichten auf ihre (ohnehin mehr als dubiose) Rolle als Mitakteure und partielle Gangster-Komplizen. Dem geistigen Räsonnement und der Belehrung des Publikums würde das guttun. Statt reißerisch verwackelter Dokumentar-Aufnahmen "vor Ort" bekämen wir eventuell wieder einige gut gebaute und echt nachdenkliche, die Seelen erschütternde Theater- oder Fernsehstücke über die Geiselproblematik, wie sie einst von Jean-Paul Sartre oder Brendan Behan geschrieben wurden.

Jene Stücke waren noch ganz an der privilegierten Rolle des Staates als des einzig legitimen Geiselnehmers orientiert, bezweifelten diese Rolle, stießen sich an ihr wund. Das ist obsolet geworden. Neue Stücke müßten sich entschlossen der modernen Situation zuwenden, der Geiselnahme als einer durch und durch verbrecherischen Melange aus eiskaltem Profitstreben und überhitzter Sensationslust. Ein großes Thema, zweifellos, der größten Dramatiker würdig. Aber gibt es denn heute noch Leute wie Sartre oder Behan, die große Themen groß behandeln können?


 
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