© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
Das Ganze im Blick
Vor 50 Jahren starb der österreichische Philosoph Othmar Spann
Gerd-Klaus Kaltenbrunner

Der bedeutende französische Soziologe Raymond Aron hat einmal gesagt: "Es ist schwer, Othmar Spann gerecht zu werden." Die Schwierigkeit, ihm gerecht zu werden, hat mehrere Gründe. Da fällt zuerst die staunenswerte Vielseitigkeit dieses 1878 geborenen Österreichers auf. Die Gesamtausgabe seiner Werke umfaßt 21 Bände mit insgesamt mehr als neuntausend Seiten. Sie weist ihn als Nationalökonomen, Soziologen, Staatslehrer, Wissenschaftstheoretiker, politischen Denker, Zeitkritiker und Metaphysiker aus. In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen gehörte Othmar Spann, neben Werner Sombart, zu den meistgelesenen und bekanntesten Wirtschaftswissenschaftlern des gesamten deutschen Sprachraums. Seine Bücher wurden nicht nur in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt, sondern auch ins Indische, Chinesische und Japanische. Seine erstmals 1911 erschienenen "Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre" erreichten dreißig Auflagen. Als er vor fünfzig Jahren starb, am 8. Juli 1950, hatte Othmar Spann eine Geschichtsphilosophie, eine Naturphilosophie, eine Religionsphilosophie, eine Ästhetik, eine Kategorienlehre, eine "Ganzheitliche Logik", eine Monographie über Meister Eckhart und andere umfangreiche Werke vollendet. Hinzu kommen Bücher wie "Philosophenspiegel", "Schöpfungsgang des Geistes", "Kämpfende Wissenschaft", "Gespräch über Unsterblichkeit" und "Erkenne dich selbst".

Alles in allem: die erstaunliche Lebensernte eines Mannes, der seine akademische Laufbahn als Nationalökonom und Statistiker begonnen hatte. Nur sehr wenige Kritiker Othmar Spanns verfügen über die Kompetenz, alle Hervorbringungen dieses "Universalisten" sachverständig zu beurteilen. Die allermeisten verdammen den Elite-Denker und Demokratie-Kritiker ungelesen als vorgeblichen Faschisten oder ignorieren ihn völlig. In der monumentalen Enzyklopädie "Philosophie und Wissenschaftslehre", herausgegeben von Jürgen Mittelstrass, fehlt Othmar Spanns Name völlig. Das ist ein lexikalischer Skandal!

Mißverständnisse, politische Voreingenommenheit und ideologische Abneigung haben dazu geführt, daß der wohl bedeutendste österreichische Philosoph des zwanzigsten Jahrhundert heute nur noch wenigen bekannt ist. Dies gilt auch für die deutschen Konservativen, die ihre geistige Aussteuer bei irgendwelchen Modedenkern suchen und nicht ahnen, daß Spanns ganzheitliche Seinslehre zu den sehr seltenen Fällen einer systematischen konservativen Doktrin zählt, die sich mit den höchsten Leistungen des deutschen Idealismus messen kann. Wer weiß schon, daß der von den Nationalsozialisten ermordete konservative Publizist Edgar Julius Jung ein Bewunderer Othmar Spanns gewesen ist? Daß der frühere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Günther Nollau, auf die Frage, wer sein Vorbild sei, die Antwort gab: "Mein einstiger Wiener Professor Othmar Spann"?

Spanns Philosophie kann man als "schöpferischen Traditionalismus" kennzeichnen, der sich als ganzheitlich, hierarchisch und transzendenzoffen erweist. Seine "ständische" Gesellschaftslehre berührt sich in vielen Hinsichten mit der klassischen katholischen Sozialtheologie. Sie ist betont antizentralistisch, antibürokratisch und pluralistisch. Das neuerdings wieder beschworene Subsidiaritätsprinzip findet hier eine tiefsinnige Rechtfertigung. Nicht von ungefähr haben die Nationalsozialisten Spann und seine Schule verfolgt.

"Gott hat nichts zu seinem Fußschemel gemacht", lautet ein Bonmot Othmar Spanns, dessen Schüler und Freunde heute vor allem in der in Wien vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift für Ganzheitsforschung zu Wort kommen. Niemand ist über all der Erste, niemand überall der Letzte. Dahinter steht der Kerngedanke Adam Müllers, dessen Werk von Othmar Spann wiederentdeckt und aktualisiert worden ist: Jeder Mensch ist Haupt eines "Standes" und Glied eines "Standes" oder Sachbereichs, zugleich "primus" und "minister". Hinter dem Romantiker Adam Müller aber steht Goethe: "Der geringste Mensch kann komplett sein" – ein "Ganzer". Dazu paßt auch, daß Spann seinen Studenten imer wieder die Lektüre von Grillparzers Novelle "Der arme Spielmann" empfohlen hat.

Othmar Spanns Grabstein auf dem Friedhof zu Neustift-Mariasdorf im Burgenland (Österreich) trägt die den Menschen wie sein Werk gleichermaßen kennzeichnende Inschrift: "Dem Meister der Gemeinschaft". Sein Denken, würde es fortgedacht, könnte jene metaphysische Glut wieder entfachen, die unter der Asche angelernter Vorurteile, zeitgeistkorrekter Phrasen und konventionellen Geredes zu verlöschen droht.

In diesem Sinne ist wohl auch Spanns Bekenntnis zu verstehen: "Seht um euch, ihr seid von Wundern umgeben. Die Welt um euch ist voller Wunder, aus Gewohnheit und Verstörung durch falsche Lehren seht ihr sie nicht. Unter all den Wundern, die wir betrachten, sind die größten: das Erkennen und das Gestalten. Darum ist die Kunst wie der Herrlichkeit Gottes so auch der Größe des Menschen Spiegel, und die Philosophie der Kunst der magische Spiegel ihrer Wunder".

 

Literatur: Othmar Spann: Gesamtausgabe. Hrsg. von Walter Heinrich u.a., 21 Bände, Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1963/79; Walter Becher: Der Blick aufs Ganze. Das Weltbild Othmars Spanns. Universitas Verlag, München 1985; J. Hanns Pichler (Hrsg.): Othmar Spann oder die Welt als Ganzes. Böhlau Verlag, Graz 1988


 
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