© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
Kinderlose Hundertjährige
Peter Sloterdijk über die EU-Sanktionen gegen Österreich und die Zukunft Europas
Carl Gustaf Ströhm

Der Philosoph Peter Sloterdijk, der an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung und an der Wiener Akademie der bildenden Künste lehrt, hat in einem Interview der österreichischen Tageszeitung Die Presse bemerkenswerte Thesen zur EU und zum Österreich-Boykott dargelegt. Auf die Frage, ob sich durch den Fall Österreich die Debatte um europäische Werte bewegt habe, antwortete Sloterdijk unverblümt: "Ja, rückwärts".

Er glaube, so Sloterdijk, daß der Österreich-Eklat nach der Bildung der schwarz-blauen Wiener Koalition "für den europäischen Prozeß eine Zerreißprobe" bedeutet habe. Der Philosoph unterließ es nicht, dem grünen Außenminister Joschka Fischer einen Nasenstüber zu verpassen. Fischer sei "als allzu konformistischer Imitator der französischen Österreich-Politik aufgefallen". Zur Europa-Konzeption des deutschen Außenministers meinte Sloterdijk: "Wenn man diese Initiative auf ihren Cash-Value herunterbricht, bedeutet sie ein deutsch-französisches Direktorium und "zur Hölle mit den Kleinen". Das Europa Fischers sei ein "Europa der Starken", die unter dem Applaus der wirtschaftlich und demographisch schwächeren EU-Mitglieder in Führung gehen sollen. Den kleinen Staaten, inklusive Österreich, werde gesagt: "Ja gut, provinzialisiert euch ruhig. Wir installieren unterdessen ein Zwei-Klassen-Europa, in dem sozusagen die Konformen ins Direktorium eintreten und die Nichtkonformen in die Peripherie."

Sloterdijk ist ziemlich sicher, daß sich die EU-Vierzehnergruppe, welche die Sanktionen gegen Österreich verhängte, inzwischen über die "Unverhältnismäßigkeit" ihrer Reaktion im klaren ist. Die Sanktionen hätten einen Lerneffekt, zugleich aber auch einen Abnützungseffekt für die EU: "Ein Fehler ist immer ein Fehler und läßt sich wahrscheinlich nie ganz durch positives Denken kompensieren." Sollte in Europa eine "substantielle faschistoide Gefahr" auftreten, an die er, Sloterdijk, im Falle Österreichs niemals geglaubt habe, dann wisse er nicht, ob die Reaktionen noch adäquat sein könnten.

Sloterdijk meint, daß man sich europaweit mit dem "Problem des moralischen Hegemonieanspruchs der Franzosen" auseinandersetzen müsse. Diese These ist um so bemerkenswerter, als das Interview mit ihm lange vor Chiracs Berlin-Besuch und den dortigen durchaus hegemonialen Erklärungen des französischen Präsidenten geführt wurde. Sloterdijk wörtlich: "Die kleinen Länder müssen sich überlegen, ob sie nur moralische Provinzen der Französischen Revolution sein wollen." Der Philosoph räumt ein, daß die Ideen der Französischen Revolution ein "Konstitutivum" der EU darstellen, aber es sei "ein Text, den man nach vielen Melodien singen kann – und das ist gut so".

Sloterdijk nimmt auch auch zu den brennenden demographischen Problemen Europas Stellung. Das sozialstaatliche System stehe zur Disposition, weil "wir es jetzt mit Menschen zu tun haben, die sich zuerst geweigert haben, sich fortzupflanzen, und sich danach weigern, früh zu sterben". Die kinderlosen Hundertjährigen seien der Alptraum des Sozialstaats von morgen. Sloterdijk plädiert für eine systematische Politik der "Eingemeindung" und der bewußten demographischen Umschichtung. Dabei müsse man aber erkennen, daß die meisten Menschen in Europa auf eine konsequente multikulturalistische Politik psychologisch, moralisch und kulturell nicht vorbereitet seien. Wörtlich: "Wir leben nicht in den Vereinigten Staaten von Europa, sondern in einem Patchwork aus Nationalstaaten." In den nächsten hundert Jahren werde es keine "Vereinigten Staaten von Europa" geben, dazu sei "die Schwerkraft der alten Gemeinschaften zu groß".

Der Leser dieses Interviews fragt sich, warum keiner der Gedanken Sloterdijks in den etablierten deutschen Feuilletons aufgegriffen wurde – von den Leitartikeln gar nicht erst zu reden.


 
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