© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/00 07. Juli 2000

 
Das Herzstück geistiger Identität
Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters
Paul Wilhelm

Manfred Fuhrmann, der bedeutende Konstanzer Latinist und Übersetzer sämtlicher Reden Ciceros, hat ein wichtiges Buch geschrieben. Als Gelehrter, der sich stets mit der Antike und ihrer Bedeutung für Europa beschäftigte, untersucht er nun den Bildungskanon, an dem sich das europäische Bürgertum von der Aufklärung bis zu den Weltkriegen orientiert hat. Dabei gilt: Die Bürger Europas verbindet mehr, als sie trennt. Dies gilt selbst für jene Zeiten, in denen nationalistische Ideologien die politische und kulturelle Sinnstiftung dominierten.

Fuhrmanns Gedankengang gliedert sich in drei Abschnitte: Der erste Teil klärt die Begriffe "Europa", "Bildung", "Kanon", "Klassik" und "Klassizismus"; der zweite Teil beschreibt vor allem die institutionellen Voraussetzungen eines europäischen Bildungskanons, nämlich das humanistische Gymnasium und den Fürstenhof des absolutistischen Zeitalters; der dritte Teil endlich schreitet die einzelnen Sachbereiche aus, von der Literatur, der Philosophie und der Geschichte über das Theater, das Konzert- und Museumswesen bis hin zur Bildungsreise. Abschließend wird die wichtige Frage erörtert, inwiefern die Mathematik und die Naturwissenschaften Bestandteil eines europäischen Bildungskanons sein können.

Die nähere Untersuchung zeigt, daß einzig bei der Literatur das nationale Element von größerem Belang ist als das europäisch-universelle: Gegenüber einer erheblichen Majorität der Autoren, die in der jeweiligen Landessprache schreiben, bildet die Gesamtheit aller fremdsprachigen Autoren in den einzelnen nationalen Kanones lediglich eine Minderheit. Heute ist vor allem in Deutschland das Werben für einen allgemein anerkannten Literaturkanon nötiger als anderswo: Allzuviel wurde nach 1968 über Bord geworfen, was sich an der literarischen Ignoranz eines großen Teiles der jüngeren Generation ablesen läßt.

Andererseits wird in dem Kapitel über Literatur aber auch nachvollzogen, wie Goethes Konzeption von Weltliteratur in seiner Zeit angelegt war, wie vor allem die Romantiker der übernationalen Perspektive Geltung verschafften, so daß ein Kanon entstand, der für das gebildete bürgerliche Publikum verpflichtend war und sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auch nach Osteuropa, vor allem nach Rußland hin, öffnete.

Der Autor berücksichtigt auch sehr stark sozialgeschichtlich erfaßbare Umbrüche, so etwa die im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzende "Verbürgerlichung der Monarchie", die sich seit Lessings "Emilia Galotti" im bürgerlichen Trauerspiel widerspiegelte. Dadurch wurde es beispielsweise möglich, bürgerliche Schicksale in einer Weise auf die Bühne zu bringen, die bislang adligen Figuren vorbehalten gewesen war; die Ständeklausel, nach der nur adlige Personen für tragische Handlungen taugten, wurde so sukzessive relativiert.

Die etymologischen Erklärungen Fuhrmanns sind nie nur gelehrtes Beiwerk, sondern dienen immer der wesentlichen Erhellung der Sache selbst und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Dies wird besonders gelungen etwa bei der Klärung des Wortes und der Sache "Kapelle" durchgeführt, wobei hier deutlich wird, wie das geistesgeschichtliche Grundphänomen der Säkularisierung einen religiösen Sinn in den Hintergrund drängte zu Gunsten des profanen Gebrauchs.

Alles in allem ein gediegen konzipiertes, von der ersten bis zur letzten Zeile stilistisch ausgefeiltes, höchst kenntnisreiches und notwendiges Buch, das angesichts des drohenden Untergangs tradierter "Bildung" in der Massenkultur nachweist, daß der Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters nach wie vor das Herzstück von Europas geistiger Identität ist.

 

Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Insel, Frankfurt/M. 2000, 219 Seiten, 39,80 Mark


 
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