© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/00 14. Juli 2000


"600 Mark Kindergeld für alle"
Der evangelische Theologe und Familienvertreter Siegfried Keil über die notwendige Familienförderung und Einwanderung
Jörg Fischer

In Deutschland gilt es heute als "Armutsrisiko Nr.1" Kinder zu haben. Staatliche Anreize in Form von Erziehungsgeld und Kindergeld konnten daran nichts ändern. Im Gegenteil – jährlich mehr Kinder werden Sozialhilfeempfänger, die Schere zwischen Kinderlosen und Kinderreichen klafft immer weiter auseinander. Wie kann man dies ändern?

Keil: Das kann man ändern, indem man das Kindergeld für alle Kinder soweit erhöht, daß es die Sozialhilfe einschließt. Das wird ja seit Jahren schon vom wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfamilienministerium wie auch von den Familienverbänden gefordert: Keiner darf allein wegen seiner Kinder zum Sozialhilfeempfänger werden. Man muß nur den jetzigen Steuerfreibetrag und das Kindergeld zusammenfassen – dann kommt man auf etwa 600 Mark Kindergeld – für alle wohlgemerkt! Es ist nicht einzusehen, daß nur Spitzenverdiener in diesen Genuß kommen. Das jetzige Optionsmodell –die Wahl zwischen Kindergeld und Steuerfreibetrag – ist ungerecht, denn für Niedrigverdiener bedeutet das: Sie haben nur Anspruch auf das Kindergeld von momentan 270 Mark.

Bis heute gibt es keine echte Wahlfreiheit zwischen Beruf und Familie. Zum einen wird die Familienarbeit nach wie vor sehr geringgeschätzt, viele Frauen suchen daher eine Verwirklichung im Berufsleben. Andererseits sind viele Mütter aufgrund ihrer finanziellen Situation zu Lasten der Kindererziehung darauf angewiesen, zum Familieneinkommen beizutragen. Bezahlbare Kinderbetreuung ist oft Mangelware. Welche Konzepte gibt es, um eine Vereinbarkeit zu schaffen? Welche Form der Kinderbetreuung wäre wünschenswert?

Keil: Es sind verschiedene Dinge zu ändern: Erstens muß sich die Arbeitswelt auf Familie einstellen – und nicht umgekehrt. Das heißt beispielsweise: die Arbeitszeiten müssen flexibler werden. Da ist die Phantasie im Augenblick leider noch viel zu gering, um Modelle zu entwickeln, die diese Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie erleichtern. Zweitens: Die einzige öffentliche Erziehung, die noch was kostet, ist die vorschulische Erziehung. Es ist doch absurd: Die Schule ist umsonst, die Universität ist umsonst – und ausgerechnet der Kindergarten kostet Geld. Umgekehrt sollte die Reihenfolge sein: Je länger jemand in öffentlichen Einrichtungen ist, desto eher sollte man darüber nachdenken, ob er dafür Geld bezahlen sollte. Kostenlose Kinderbetreuung sollte ermöglicht werden – was es ja nicht nur in der DDR, sondern auch im Land Berlin eine Zeitlang gab. Auch das Erziehungsgeld, der Erziehungsurlaub und die Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht müssen verbessert werden. Da ist die jetzige Koalition ja ein kleines Stück in die richtige Richtung gegangen, etwa dadurch, daß Väter und Mütter den Erziehungsurlaub flexibler nutzen können. Doch das reicht bei weitem nicht aus. Das Erziehungsgeld von 600 Mark ist bislang nicht erhöht worden, das ist unbedingt notwendig. Es sollte sich am entgangenen Einkommen orientieren, um auch Vätern einen Anreiz zu schaffen, es zu nutzen. Da gibt es – etwa in Skandinavien – positive Vorbilder.

Im öffentlichen Dienst ist das garantiert gut zu organisieren. Aber: Wie soll das für Mittelständler und Freiberufler realisiert werden?

Keil: Bei größeren Unternehmen, die Wert legen auf Mitarbeit von qualifizierten Frauen, gibt es Arbeitszeit- und Urlaubsmodelle, die schon heute alle gesetzlichen Regelungen weit übertreffen. Diese Firmen ermöglichen Fortbildung und so weiter. Für diese Betriebe ist das ein gangbarer Weg – auch außerhalb des öffentlichen Dienstes. Das muß allerdings nicht auf die "ganz großen" beschränkt bleiben. Für die kleinen und mittleren Unternehmen könnte die Lösung darin liegen, daß sie sich zusammentun und so familienfreundliche Lösungen finden. Das könnte eine Aufgabe für die Industrie- und Handelskammern oder die Handwerkskammern werden. Wir als Familienverband sehen schon, daß das für den Mittelstand eine große Belastung bedeutet, daher sollte die Verantwortung nicht bei dem Kleinunternehmer, sondern bei den jeweiligen Verbänden liegen.

Wie soll es aber für "Scheinselbständige" oder andere ungeschützte "neue Arbeitsverhältnisse" umgesetzt werden?

Keil: Das ist eine besondere Problematik. Diese Arbeitsverhältnisse grenzen oft an Selbstausbeutung. Hier sind Lösungen schwerer denkbar. Andererseits steht deren "Schreibtisch" häufig in der eigenen Wohnung, was die Kinderbetreuung zum Teil erleichtert.

Wer soll diese ganzen – sicher wünschenswerten – Sozialleistungen bezahlen?

Keil: Die 600 Mark Kindergeld sind durchaus gegenzufinanzieren: Wir haben im Moment eine lange – von vielen kaum noch durchschaubare – Liste von Familienleistungen, se es durch Transferzahlungen, sei es durch Steuererleichterungen. Wenn man diese Liste einmal wirklich durchforstet – bis hin zum Ehegattenspitting –, dann käme da schon eine Menge zusammen. Es gibt Leistungen, die viele gar nicht in Anspruch nehmen, weil sie diese nicht kennen. Auch die Sozialhilfe für Kinder würde bei unserem Modell wegfallen. Das bedeutet natürlch eine Neuaufteilung der unterschiedlichen Steuern zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Wenn der Bund das Kindergeld für alle bezahlt – und es nicht mit der Sozialhilfe verrechnet wird –, würden beispielsweise die Kommunen entlastet werden. Ein Teil der 600 Mark ist also schon jetzt vorhanden – man muß ihn nur aus den richtigen "Töpfen" entnehmen. Der verbleibende Fehlbetrag muß dann anders finanziert werden. Man muß sich hierbei auch überlegen, was uns die Zukunft unserer Gesellschaft wert sein soll: Im Augenblick leben wir eigentlich noch so, wie Adenauer bei der Steuer- und Rentenreform von 1957 gedacht hat: "Kinder kriegen die Leute immer." Das hat sich geändert: Wir brauchen heute eine fördernde Familienpolitik und, da dies wohl nicht ausreicht, auch ein Einwanderungsgesetz – denn wir werden auch durch eine noch so gute Familienpolitik nicht genügend Nachwuchs bekommen.

Ihr Vorschlag, Einwanderung zu fördern, um genügend Nachwuchs zu bekommen, setzt aber voraus, daß die Zuwanderer auch in die Sozialkassen einzahlen. 1972 lebten in Westdeutschland 3,5 Millionen Ausländer – davon waren 2,3 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Heute leben etwa 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland – davon sind aber nur zwei Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Wie soll das funktionieren?

Keil: Inzwischen sind viele Ausländer keine lohnabhängig Beschäftigten mehr, sondern oft Selbständige – etwa in der Gastronomie oder freiberuflich – und leisten dort ihren Beitrag und zahlen Steuern.

Unter einigen Ausländergruppen sind jedoch auch überproportional viele Sozialhilfeempfänger, die natürlich keinen Beitrag zum Sozialsystem leisten ...

Keil: Ich kann nicht erkennen, daß dort der Anteil der Sozialhilfeempfänger größer sein soll als bei uns. Zuwanderung ist nötig, denn wir haben eine zurückgehende und alternde Bevölkerung, wir brauchen die Menschen.

In Deutschland bleiben heute etwa 40 Prozent aller Ehen dauerhaft kinderlos. Wie ist der besondere Schutz der Ehe, die offenbar nicht mehr immer auf Reproduktion angelegt ist, noch zu rechtfertigen? Müßte an die Stelle des grundgesetzlichen Schutzes von Ehe und Familie nicht der von Familien und Alleinstehenden mit Kindern treten?

Keil: Ja. Aber der Artikel sechs des Grundgesetzes ist schon heute betitelt mit "Ehe und Familie; nichteheliche Kinder". Im Absatz 5 heißt es: "Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern." Ich interpretiere das so, daß schon heute Alleinstehenden mit Kindern der gleiche Schutz gewährt wird. Der besondere Schutz der Ehe ist aus unserer Geschichte zu erklären: Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes war etwa noch der "Arierparagraph" gegenwärtig. Die Ehe sollte daher nie wieder staatlicher Reglementierung unterliegen, die etwa bestimmte Ehen zuläßt, andere Ehe verbietet usw. Familien sind für mich Gemeinschaften, wo zwei Generationen zusammenleben – daher sind diese Gemeinschaften schon heute grundgesetzlich geschützt.

Das Ehegatten-Splitting war als Steuervorteil zur Familienförderung gedacht. Ist es angesichts der vielen kinderlosen Ehen und der vielen berufstätigen Mütter noch zeitgemäß? Wäre es gerechter, das Ehegatten-Splitting durch ein Familien-Splitting, wie es beispielsweise in Frankreich gehandhabt wird, zu ersetzen?

Keil: Es kommt darauf an, wie wir den Übergang vom Ehegatten-Spitting zur modernen Familienförderung hinbekommen. Bei der Mehrzahl der Familien, die heute gegründet werden, haben Frauen und Männer ähnliche Erwerbsbiographien – da wirkt sich das Ehegatten-Splitting kaum noch aus. Vorteile gibt es nur, wenn große Einkommensunterschiede zwischen den Partner bestehen. Wenn man das Ehegatten-Splitting jedoch sofort abschafft, würde man eine ganze Generation von Frauen bestrafen, die eine ganz andere – traditionelle – Erwerbsbiographie haben: Die geringen Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung etwa bedeuten für diese nur ein "Taschengeld". Auch ich habe mein erstes Arbeitszimmer als Pfarrer aus der ausgezahlten Rentenversicherung meiner Frau bezahlt. Diese Frauen dürfen wir nicht durch einen plötzlichen Systemwechsel bestrafen. Das Ehegattensplitting sollte also nach einer Übergangszeit abgeschafft werden. Aber auch das Familiensplitting ist keine gerechte Lösung, es bevorzugt ebenso höhere Einkommensbezieher. Wir plädieren daher für das 600-Mark. Kindergeld für alle – ohne Ausnahme.

Der Generationenvertrag ist das Fundament des Sozialsystems. Wie muß er wegen der demographischen Entwicklung modifiziert werden?

Keil: Ja, selbstverständlich. Es muß die Erziehungsleistung der Familie – die ja ein immaterieller Beitrag ist – viel stärker gewürdigt werden. Wir schlagen vor: Für ein Kind drei Rentenjahre, für zwei Kinder zehn Rentenjahre und für drei Kinder 18 Rentenjahre als Erziehungszeit in der Gesetzlichen Rentenversicherung einführen.

Wie soll das bei einem privaten Rentenversicherer funktionieren?

Keil: Bei der privaten Vorsorge muß es staatliche Zuschüsse zu den Beiträgen geben – da sind Regierung und Opposition auf dem richtigen Weg –, speziell bei den Niedrigverdienern.

Der Gesetzentwurf zur eingetragenen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft wurde im Bundestag beraten. Wenn Bundestag und Bundesrat zustimmen, wäre damit ein quasi-eheliches Institut geschaffen. Würde damit der Schutz von Ehe und Familie als einer auf Fortpflanzung gerichteten Institution in Frage gestellt?

Keil: Nein. Die Verbesserung der Lage einer Gruppe muß nicht zwangsläufig eine Benachteiligung einer anderen Gruppe bedeuten. Außerdem zeigen Erfahrungen anderer Länder, daß diese neuen Möglichkeiten nur sehr zögerlich genutzt werden.

 

Prof. Dr. Dr. Siegfried Keil geboren 1934. Studierte Theologie und Soziologie in Kiel und Tübingen. Drei Jahre Gemeindepfarrer, vier Jahre Direktor der Evangelischen Hauptstelle für Familien- und Lebensplanung, zwölf Jahre Professor für Sozialpädagogik an der PH Ruhr und der Universität Dortmund. Seit 1986 Professor für Sozialethik am Fachbereich Evangelische Theologie Marburg. Seit 1995 Direktor des IGS an der Universität Marburg.

Gegenwärtige Ehrenämter: Seit 1969 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Familie. Seit 1973 Präsident der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen e.V. in Bonn.

Publikationen: Gruppe Führung Gesellschaft (München 1961), Sexualität - Erkenntnisse und Maßstäbe (Stuttgart/Berlin 1966), Konzeption und Organisation familienrelevanter.. (München 1979), Lebensphasen, Lebensformen.. (Bochum 1992).

 

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