© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/00 14. Juli 2000

 
Bismarcks Idee am Ende
Alterssicherung : Die rot-grüne Rentenreform steht auf dem Prüfstand
Günter Wiese

Unsere gesetzliche Rentenversicherung (GRV) beruht als Umlagesystem auf einem Genera-tionenvertrag, der am Ende des 19. Jahrhunderts von Bismarck ins Leben gerufen wurde. Er hat zum Inhalt, daß diejenigen, die im Erwerbsleben stehen, durch Beiträge und Steuern für jene aufzukommen haben, die aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden sind, sowie für jene, die diesen Lebensabschnitt noch nicht erreicht haben.

Nachdem das Rentensystem zwei verlorene Weltkriege, eine große Weltwirtschaftskrise, zwei schlimme Geldentwertungen, zwei riesige Massenarbeitslosigkeiten und die Wiedervereinigung mit der Währungsunion relativ unbeschadet überstanden hat, lassen gesellschaftliche Veränderungen die Grundlagen des Generationenvertrags und damit unser beitrags- und leistungsbezogenes Rentensystem derzeit wanken.

Zu Beginn waren von dem Vertrag zunächst drei Generationen betroffen. Das Berufseintrittsalter lag zwischen 14 und 16 Jahren. Die Regelaltersgrenze wurde unter Bismarck auf 70 Jahre festgelegt. Erst 1916 wurde diese Grenze auf 65 Jahre herabgesetzt – ein Alter, das damals sehr wenige Menschen erreichten, denn die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 45 Jahre. Damit sorgten die 15- bis 65jährigen für die vielen Kinder und die wenigen Alten.

Bis heute hat sich dieser demographische Aufbau wesentlich verändert. Es sind mittlerweile vier bis fünf Generationen am Vertrag beteiligt. Das Berufseintrittsalter schwankt zwischen 22 und 28 Jahren; der Berufsausstieg liegt aber bereits bei 59 Jahren. Damit stehen nicht mehr 50, sondern nur noch 35 Beitragjahre zur Verfügung, um die wenigen Kinder und vielen Alten zu versorgen. Daß sich das Verhältnis zwischen Kindern und Rentnern so stark verändert hat, ist die Folge der geringen Geburtenrate und der längeren Lebenserwartung, die bei Neugeborenen 74 Jahre (Jungen) bzw. 80 Jahre (Mädchen) beträgt. Mit der steigenden Lebenserwartung und dem früheren Renteneintritt steigt automatisch die Rentenbezugsdauer; bei 65jährigen Männern heute etwa 15 und bei 65jährigen Frauen knapp 19 Jahre. Diese Veränderungen sind der eigentliche, tiefgreifende Grund für die finanziellen Schwierigkeiten unseres beitrags- und leistungsbezogenen Rentensystems. Ohne diese Veränderungen läge der Beitragssatz immer noch bei 13 bis 14 Prozent.

Ein Verteilungskampf zwischen Alt und Jung kann nur durch umfassende Strukturveränderungen verhindert werden, es sei denn, die Einnahmesituation ließe sich verändern. Die alte Regierung hatte bereits eine Reform auf den Weg gebracht. Ein demographischer Faktor wurde eingeführt, der das heutige Rentenniveau von rund 70 Prozent bis zum Jahre 2030 auf 64 Prozent herabsetzen sollte. Damit sollten sowohl Beitragszahler als auch Rentner an den Kosten für die längere Rentenbezugsdauer beteiligt werden. Es sollten ab 2000 Rentenabschläge von 0,3 Prozent für jeden Monat einer vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente erhoben werden. Die Berufs- und Erwerbunfähigkeitsrenten sollten in eine Erwerbsminderungsrente umgewandelt werden. Eine Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung war ebenfalls vorgesehen. Mit der Rentenreform 1992 wurde bereits das stufenweise Hinausschieben der Altersgrenze aller Versicherten auf das 65. Lebensjahr beschlossen.

Die neue Bundesregierung hatte das Reformgesetz bereits im Dezember 1998 außer Kraft gesetzt. Die vorgesehenen Regelungen wurden entweder verschoben oder ausgesetzt.

In der Regierungserklärung vom 10. November 1998 ist zu lesen: "Wir geben eine (…) Garantie ab. Wir werden den heute in Rente lebenden Menschen ihre Rente sichern und (…) nicht kürzen. Denjenigen, die heute (…) einzahlen, sagen wir einen ... leistungsgerechten Rentenanspruch (zu)."

Der vorgelegte und heiß diskutierte Reformentwurf der rot-grünen Regierung sieht dagegen – soweit er bisher bekannt ist – anders aus.

Die nettolohnbezogene Rentenerhöhung wurde für zwei Jahre willkürlich außer Kraft gesetzt und durch die Inflationsrate ersetzt. Vor der Wahl und noch im Februar 1999 wurde vom jetzigen Bundeskanzler noch das Gegenteil versprochen. Ab 2002 soll die Netto-Lohn-Erhöhung wieder einsetzen, aber auf verminderter Rechengrundlage. Der Demographiefaktor und die damit verbundene stufenweise Verringerung des Rentenanstiegs bis zum Jahre 2030 wurde als Betrug am Rentner verunglimpft und als nicht hinnehmbar bezeichnet. Jetzt wird die Absenkung des Niveaus auf unter 64 Prozent bereits weit früher erreicht, und dieses soll nach den bisherigen Planungen bis zum Jahre 2050 weiter bis auf letztlich 54 Prozent sinken.

Seit Einführung des heutigen Rentensystems werden die Beiträge hälftig von den Arbeitnehmern und -gebern erbracht. Dieses Prinzip wird mit einer erzwungenen privaten Zusatzvorsorge unterlaufen, indem die vorgesehenen vier Prozent vom Arbeitnehmer allein zu tragen sind. Das ist im Grunde eine verschleierte Beitragserhöhung zum Nachteil der Arbeitnehmer. Bei einem Beitragssatz von 20 Prozent entfielen auf den Arbeitgeber acht Prozent, auf den Arbeitnehmer jedoch zwölf Prozent.

Private kapitalgedeckte Altersvorsoge wird längst freiwillig von vielen Arbeitnehmern betrieben. Ein Zwang ist abzulehnen. Die unbestritten notwendige private Altersvorsorge muß jedoch für Geringverdiener umfassend vom Staat gefördert werden. Gleiches gilt für Eltern mit Kindern. Zu befürchten ist, daß die Reform in die Grundrente führt.

Die Erwerbsminderungsrente ist so zu gestalten, daß eine Verschlechterung zur bisherigen Regelung für diesen bereits benachteiligten Personenkreis nicht eintritt.

Die Hinterbliebenenversorgung ist den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Das traditionelle Ehe- und Familienmodell, wonach der Ehemann lebenslang vollzeitbeschäftigt ist und die Ehefrau wegen der Haushaltsarbeit und Kindererziehung nur für kurze Zeit erwerbstätig – teilweise nur als Teilzeitkraft – ist, hat sich weitgehend verändert. Für eine Neuregelung sind verschiedene Modelle denkbar. Die jetzigen Witwen- und Witwerrenten sind für nicht verdienende Ehepartner in gleicher Höhe zu erhalten. Haben dagegen beide Ehepartner während der Dauer der Ehe oder zu verschiedenen Zeiten jeweils eigenes Einkommen erzielt, sind diese Einkommen gegenseitig – wie beim Versorgungsausgleich nach einer Scheidung – anzurechnen.

Die geplante Rentenreform sollte folgendes berücksichtigen:

l Die Rentenhöhe muß von Beitragshöhe und Versicherungsdauer abhängig bleiben. Aus volkswirtschaftlichen Gründen ist der Beitragssatzstabilität Vorrang einzuräumen.

l Die zunehmende Lebenserwartung muß über einen Demographiefaktor berücksichtigt werden.

l Einer eigenverantwortlichen Altersvorsorge kommt eine steigende Bedeutung zu. Sie muß vom Staat unter sozialer Staffelung gefördert werden und in seinen Händen bleiben. Die Tarifpartner haben einen großen Gestaltungsspielraum.

l Eigenverantwortliche Altersvorsorge schließt staatlichen Zwang aus.

l Die beitragsfinanzierte Rente ist kein Teil der staatlichen Fürsorge. Zu geringer Rentenanspruch ist durch staatliche Fürsorge zu ergänzen.

l Es ist stets darauf zu achten, daß die Rentenansprüche der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes unterliegen.

l Eine Harmonisierung der Beamtenversorgung mit der gesetzlichen Rentenversicherung ist wegen der unterschiedlichen Systeme und Grundlagen kaum möglich. Eine eigenstängige Altersversorgung der Beamten ist daher weiter notwendig.

 

Günter Wiese ist Geschäftsführer der Christlichen Gewerkschaft Postservice und Telekommunikation (CGPT) in Berlin.


 
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