© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/00 14. Juli 2000

 
Das Seelische ist eine Großmacht
Franz Alt zum 125. Geburtstag des Schweizer Tiefenpsychologen C.G. Jung
Franz Alt

Am 6. Juli 1875 – also vor 125 Jahren – wurde Carl Gustav Jung in Kesswil im Kanton Thurgau geboren. Vor 100 Jahren schrieb Siegmund Freud seine "Traumanalyse". Freud war der Analytiker im 20. Jahrhundert. C.G. Jung wird wahrscheinlich der Tiefenpsychologe des 21. Jahrhunderts sein.

Die materialistisch orientierte Freud’sche Psychoanalyse wird heute zunehmend in Frage gestellt und stellt sich selbst in Frage. Die spirituell inspirierte analytische Psychologie C.G. Jungs hingegen gewinnt an Bedeutung.

Freud, der in den meisten Konflikten nicht verarbeitete Triebprobleme sieht, ist wohl eher der Psychologe der ersten Lebenshälfte. Seine Psychologie ist retrospektiv. Jungs Tiefenpsychologie ist eher perspektivisch. Er fragt nach der Chance jeder Krise.

Jung hat erkannt, daß die meisten Probleme seiner Patienten und Patientinnen über 35 im Grunde religiöser Natur sind. Er ist der Psychologe der Lebensmitte und der zweiten Lebenshälfte. Freud verfolgt die Probleme der Erwachsenen zurück in die Kindheit. Freud schaut fast immer zurück. Jung blickt nach vorn. Freud ist regressiv, Jung progressiv.

Freud will langwierige seelische Tiefenbohrungen und landet fast immer bei Mutter- und Vaterkomplexen; und das bei therapeutischen Behandlungen, die vier bis fünf Jahre und noch länger dauern. Jung hingegen und seine Schülerinnen und Schüler wollen möglichst rasch "Individuation", Emanzipation, Selbständigkeit und geistige Widerstandskraft mobilisieren. Jung zeigt einen Weg vom Ich der ersten Lebenshälfte zum Selbst der zweiten Lebenshälfte.

Was aber, wenn Individuation, also Menschwerdung, nicht gelingt? Jeder Blick in ein Altersheim gibt uns die Antwort. Könnte es sein, so würde heute Carl Gustav Jung wohl fragen, daß die zunehmende Angst der Älteren vor dem Tod die Ursache ist für die zunehmende Angst der Jüngeren vor dem Leben? Und kann es nicht auch sein, daß die Angst vor dem Tod viel zu tun hat mit den unbewältigten Krisen unserer Lebensmitte? Zentrale Fragen des Seelenforschers Jung, die ihn heute so aktuell sein lassen.

Der Schweizer Tiefenpsychologe ist ein Meister der Selbsterkenntnis. Viele Jahre nach seinem "Vatermord" am älteren und lange von ihm bewunderten Sigmund Freud in den Jahren 1911/12 hat er erst seinen eigenen Weg der Seelenforschung gefunden – nach einer klassischen und schmerzhaften Krise in der Mitte seines Lebens.

Jung bedauerte immer wieder, daß es keine staatlichen Schulen für die zweite, die entscheidende Lebenshälfte gibt. Aber Jung zeigte uns dafür die Schulen in uns: die individuellen seelischen Entwicklungswege, die Träume, das Unbewußte.

Wirkliche Religion ist nach Jung die Möglichkeit, die Seele zu entdecken; Freud sieht in der Religion zuerst die Möglichkeit, das Seelische zu verdrängen. Religion ist für Freud wie für Marx Opium, für Jung psychisches Dynamit. Über C.G. Jung lernte ich, daß Jesu Kernfrage nicht heißt, was muß ich glauben, sondern was soll ich tun und wie soll ich leben.

Jung: "Jeder krankt in letzter Linie daran, daß er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat." (C.G. Jung, Gesammelte Werke, Band 11, Seite 362)

Unsere heutige Psychologie – maßgeblich beeinflußt von Freud – ist fast gottlos. Aber die heutige Theologie – maßgeblich von der Aufklärung beeinflußt – ist fast seelenlos. Jungs Weg ist der Weg der Ganzheit und Selbstverwirklichung über Selbsterkenntnis.

Was alle Menschen aller Zeiten und aller Kontinente miteinander verbindet, das ist der religiöse Kern unserer Existenz. Das heißt: jeder Mensch hat eine Seele. Religion und Psychologie sind nicht dasselbe, aber beide sorgen sich um die menschliche Seele.

Unsere Periode der Menschheitsgeschichte ist von Technik und Ökonomie geprägt. Technisch sind wir Weltmeister, psychisch aber infantil geblieben. Es ist grotesk, daß wir auf den Mond fliegen, den Atomkern und den Zellkern spalten können, aber immer noch nicht wirklich in uns hineinhören wollen und auf die Signale achten, die wir von dort Nacht für Nacht über unsere Träume empfangen. Jung lehrt, daß Heilung nur von innen kommen kann, nicht aus dem Medikamentenschrank – für den Einzelnen, für die Gesellschaft, für die Menschheit. Die wichtigste politische Einsicht, die wir Heutigen von C.G. Jung lernen könnten: Die drohenden Katastrophen um uns sind das Ergebnis der Katastrophen in uns. Konkret: Was richtet der real existierende Brutal-Kapitalismus physisch und psychisch, ökonomisch und ökologisch, sozial und politisch weltweit an? Wird sich das jetzt herrschende politische System zu Tode siegen?

Um die Dringlichkeit dieser Fragestellung zu verdeutlichen, will ich als Fernsehjournalist den Versuch machen, für einen Durchschnittstag am Beginn des neuen Jahrhunderts eine ökologisch wahrhaftige Tagesschau zu formulieren. An einem einzigen Tag müßten meine Hamburger Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel sagen: Auch heute sind 100.000 Menschen verhungert; sind 100 Tier- und Pflanzenarten ausgestorben; werden 86 Millionen Tonnen Erdreich abgeschwemmt; wurden 55.000 Hektar Tropenwald abgeholzt; haben sich die Wüsten um 20.000 Hektar ausgedehnt; wurden 100 Millionen Tonnen Treibhausgase in die Luft geblasen.

Im Zeitalter der globalen Umweltzerstörung meint die Ökopsychologie: Individuelle Heilungsprozesse gelingen nur, wenn Menschen sich auch für das Wohlergehen der Natur und ihrer Umwelt engagieren. Es kann unsere Seele nicht gesunden, wenn die Umwelt immer kränker wird.

Wie sollen seelische Krankheiten heilen, wenn immer mehr Menschen kein Wasser zum Trinken haben, keine Luft zum Atmen und keine Böden, auf denen noch etwas wächst? Wie wollen Menschen psychisch lebendig bleiben, wenn sie durch ihr alltägliches Verhalten immer mehr Arten ausrotten?

In den 200 Jahren des Industriezeitalters sind wir Westeuropäer materiell Weltmeister geworden, doch psychisch sind wir verkrüppelt. Wie sonst ließe sich die erschreckende Realität der zunehmenden und globalen Umweltzerstörung erklären?

Herkömmliches Verhalten ruft bei Katastrophen nach Staat und Politik. In der Schule C.G. Jungs aber lerne ich zu fragen: Was kann ich tun? Wie kann ich selbst zur Heilung beitragen? Was bedeutet Individualität für die Gemeinschaft von Mensch, Tier und Pflanzen? Wie integriere ich individuelle Heilung in Heilungsprozesse für den Planeten? Liegt der Kern unserer Neurosen nicht in der Entfremdung des Menschen von der ihn tragenden Natur? Wie können wir Psychotherapie in einen ökologischen und kosmologischen Zusammenhang einbinden?

C.G. Jung hat diese aktuellen Fragen so vor 50 Jahren natürlich noch nicht gestellt. Aber diese Fragen stellen sich jedem, der sich auf den bedeutendsten Tiefenpsychologen des 20. Jahrhunderts wirklich einläßt. C.G. Jungs Tiefenpsychologie hat die Basis geschaffen für die heute überlebensnotwendig gewordene Tiefenökologie.

C.G. Jung hat die Seele die eigentliche "Großmacht" genannt, die alle Mächte der Erde um ein Vielfaches überragt. Nur über radikale Seelenarbeit können wir mitarbeiten am Friedensvertrag mit der Natur. Frieden in uns führt zu Frieden um uns. Nur die Entdeckung der Großmacht Seele wird unsere Mitarbeit am Bewahren der Schöpfung erfolgreich werden lassen.

 

Franz Alt ist Fernsehjournalist und Buchautor. Er hat mehrere Bücher über C.G. Jung herausgegeben, zuletzt veröffentlichte er "Der ökologische Jesus – Vertrauen in die Schöpfung".
Im Internet ist er zu erreichen unter http://www.sonnenseite.com.


 
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