© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/00 14. Juli 2000

 
Simmel einmal Anders
Geistesgeschichte: Philosophie des Geldes
Volker Kempf

Der Berliner Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858–1918) war seinerzeit ein Ausdruck der geistigen Elite in Deutschland. Nach seinem Tode geriet er allmählich in Vergessenheit, um gegen Ende der achtziger Jahre wieder eine Renaissance zu erfahren. Einer der letzten Zeitgenossen Simmels, die seinem Denken verbunden blieben, war Günther Anders (1902–1992); sein Vater kannte Simmel persönlich und schätzte ihn sehr.

Simmels Hauptwerk lautet "Philosophie des Geldes". Es erschien vor nunmehr genau 100 Jahren und spürt unter dem besonderen Eindruck des Berliner Großstadtlebens dem heraufziehenden neurotischen oder sogenannten "nervösen Zeitalter" sowie seiner Ursache, der ausgeprägten Geldwirtschaft, nach. Das Geld verspricht Glück, löst es aber letztlich nicht ein, womit das Verlangen nach dem Glück im Gelde aber nur noch größer und gleichzeitig noch weniger einlösbar wird – die Nervosität nimmt zu.

Spielt auch dieser Aspekt in dem an Simmel anschließenden Hauptwerk von Günther Anders, das den Titel "Die Antiquiertheit des Menschen" (1956/80) trägt, eine Rolle, so bekommt für ihn aber ein anderer Aspekt aus der "Philosophie des Geldes" eine besondere Aktualität: Es ist die geldwirtschaftliche Arbeitsteilung, die eine enorme objektive Kulturleistung mit sich bringt, hinter der der Mensch zurück bleibt. Der Mensch muß sich, um sich zu kultivieren, eine objektive Kultur (aus Wissenschaft, Technik, Kunst und Religion) schaffen und sich diese aneignen, was angesichts der Eigendynamik der objektiven Kulturleistungen aber immer unmöglicher wird. Allein die Bücherberge wachsen schneller, als man sie erklimmen kann.

Diese tragische Diskrepanz – Simmel spricht später von einer "Tragödie der Kultur" – besteht aus dem Gefälle zwischen dem objektiven Herstellungsvermögen einerseits und dem subjektiven Vorstellungs- und Verantwortungsvermögen andererseits. Für Günther Anders bricht sich dieses Gefälle mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki Bahn. Der Bomberpilot Claude Eatherly beispielsweise, mit dem Anders einen berühmt gewordenen Briefwechsel ("Off limits für das Gewissen") führte, habe nur einen Wink, das O. K.-Zeichen, gegeben und damit im Fluge, wie man sonst einen Text überfliegt, unvorstellbarerweise 200.000 Tote fabriziert. Versuchte Eatherly diese Tat dennoch zu bereuen, so legte der Schreibtischtäter Adolf Eichmann seine entfremdete und arbeitsteilige Vernichtungstätigkeit an den Juden als Beleg für die Irrelevanz seiner Beteiligung am Holocaust aus.

Die Diagnose der von Simmel ausgemachten wachsenden Diskrepanz schrieb Anders als Kind seiner Zeit fort. Auch Simmels Methode, welche sich mehr mit den Sachen selbst als mit Büchern auseinandersetzt, wird für Anders besonders aktuell. Denn die technischen Revolutionen seit Mitte des 20. Jahrhunderts passen in keine gängige Theorie hinein. Dies führt zwangsläufig dazu, daß man sich die Sachen selbst genauer anschauen muß und dadurch auch ohne aufwendige geistesgeschichtliche Erörterungen und Werkinterpretationen auskommt. Dies ist der Lesbarkeit durchaus dienlich. Nicht zufällig waren Simmel wie Anders beliebte philosophische Schriftsteller, weshalb sie heute noch, trotz ihrer Distanz gegenüber dem sogenannten Schulbetrieb an den Universitäten, ihre Klassizität bewahrt haben.

Anders’ Werk kann man im Kern mit gutem Gewissen als eine zeitgemäße Aktualisierung von Grundgedanken Simmels aus der Zeit um 1900 lesen. Die Prägekraft des Geldwesens bzw. der aus ihm herrührenden Technik auf die soziale Welt wird weiter ausgebreitet. Nur hatte Anders, der sich selbst als linker Konservativer verstand, Karl Marx eine weitaus größere Bedeutung beigemessen als Simmel. Auch kommt als Eigenart hinzu, daß Simmel später in seinen Werken durchschimmern läßt, daß er ein deutsch-nationaler Jude war – so etwas gab es, was ebenfalls vergessen scheint –, während der Jude Anders keinen Hehl daraus machte, nach seiner Verfolgung durch die Nationalsozialisten bis zuletzt gegenüber Deutschland auf Distanz geblieben zu sein. Aber jede Zeit hat ihre eigene Geschichte, in der wahre Einsichten in neuen Formen immer wieder auftauchen, so lange sie sich in der Sache nicht erledigt haben. Das ist dann die Zeit der vergessenen Schriftsteller, die plötzlich so aktuell erscheinen.

 

Volker Kempf ist Soziologe. Von ihm ist im Peter Lang Verlag das Buch "Günther Anders – Anschlußtheoretiker an Georg Simmel?" erschienen.


 
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