© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/00 14. Juli 2000

 
Polnische Täter und deutsche Opfer
Der Kieler Arndt Verlag gewinnt einen Prozeßmarathon gegen das Auswärtige Amt
Jessica Rohrer

Es gibt Bücher, die man sich nicht antun muß. Das von Hans Schadewaldt bearbeitete, 1940 publizierte Werk "Dokumente polnischer Grausamkeit" gehört in diese Kategorie. Wer sich das abgegriffene, nach buchbinderischer Pflege schreiende Exemplar der Berliner Staatsbibliothek trotzdem in den Sonderbereich des dortigen Lesesaals bestellt, kann nach der ersten Betrachtung des umfangreichen Bildteils schmerzhaft erfahren, daß die Redewendung vom sich "zusammenkrampfenden Herzen" ihren sonst mitklingenden kolportagehaften Unterton verliert. Nach Fassung ringend, empfindet der Betrachter die Ablichtungen erschlagener, verstümmelter und geschändeter Menschen selbst als Körperverletzung. Die Reproduktion dieser Bilder, fast sechzig Jahre später, wirkt darum ebenso obszön wie die medial omnipräsenten Leichenhaufen von Bergen-Belsen oder Fotos verhungerter Ukrainer in Robert Conquests Arbeiten über Stalins Krieg gegen die "Kulaken".

Die Motive einer solchen Instrumentalisierung mit der Kamera entwürdigter toter Menschen kann man mit einem altmodischen Wort also nur als "unanständig" verdächtigen. Oder gibt es wirklich den Hauch einer honorigen Begründung dafür, ein von Joachim von Ribbentrops und Ernst von Weizsäckers Auswärtigem Amt bestelltes Erzeugnis der anti-polnischen Kriegspropaganda unkommentiert nachzudrucken? Der Kieler Arndt Verlag, der das Werk 1996 als Reprint auf den Markt brachte, verwies seinerzeit darauf, daß man mit so einer Publikation der einseitigen, politisch korrekten Präsentation deutsch-polnischer Beziehungen entgegenwirken wolle, die Polen stets als Opfer, Deutsche nur als Täter zeige. Ist dies ein honoriges Motiv?

Unbezweifelbar herrschte und herrscht diese vom Verlag monierte ein-seitige Wahrnehmung und Darstellung bis weit in jenen Kreisen vor, die sich als professionelle Historiker einem weniger volkspädagogisch geprägten Erkenntnisinteresse verpflichtet fühlen sollten. Und die Pressereaktionen scheinen seit 1996 zu bestätigen, daß die herrschende Meinung an der gängigen Rollenverteilung: "deutsche Täter – polnische Opfer" festhalten will. Die Schleswig-Holsteinische Landeszeitung etwa widmete dem Reprint eine halbe, sich mit dem "rechtsextremen" Verleger Dietmar Munier beschäftigende Seite, ohne zum Inhalt des Buches mehr mitzuteilen, als daß es sich hier natürlich um ein "Machwerk" handle.

Es ist in den letzten fünfzehn Jahren neben dem nicht zur engeren "Zunft" zu zählenden Hugo Rasmus, dem Kölner Polenkenner Georg W. Strobel und dem nicht in Deutschland lehrenden Hans Jansen primär ausländischen, darunter vielen jüdischen Historikern wie Ronald Modras ("The Catholic Church and Antisemitism Poland 1933-1939", Chur 1994) vorbehalten gewesen, die Repressionspolitik Warschaus gegenüber deutschen, jüdischen, ukrainischen und litauischen Minderheiten detailliert zu erforschen. Die 1919 begonnene "kalte Vertreibung" der Deutschen, vor allem aus den der Republik Polen in Versailles zugeschlagenen Gebieten Posens und Pommerellens, mündete unter diesen Voraussetzungen im Sommer 1939 in jene "Deutschenpogrome", von denen – kurz nach Kriegsausbruch – der "Bromberger Blutsonntag" die traurigste Berühmtheit erlangte.

Der "Dokumente"-Band von 1940 gibt trotz seiner unzweideutigen propagandistischen Absicht und der Tatsache, daß dem Leser Joseph Goebbels’ Lüge von den 58.000 Opfern (statt etwa 5.000) eingangs entgegenspringt, in seiner historischen Einleitung einen weitgehend korrekten Abriß der Geschichte der über zwanzigjährigen, brutalen, seit Frühjahr 1939 eskalierenden polnischen "Entdeutschungspolitik". Da es sich auch bei den Bildern von Opfern polnischer Ausschreitungen beileibe nicht um Montagen handelt, haben wir hier also alles andere als ein "Machwerk" vor uns.

Wenn der Arndt Verlag jetzt mitteilt (JF 27/00), er habe nach einem Prozeßmarathon vor dem Berliner Landgericht endlich vor dem Kammergericht (Oberlandesgericht) in letzter Instanz über das anfangs wettbewerbsrechtliche Verstöße, dann Urheberrechte einklagende Auswärtige Amt (AA) obsiegt, ist dies trotzdem eine zweischneidige Sache. Einerseits muß man zwar begrüßen, daß ganz im Sinne des legendären Potsdamer Müllers, der gegen die monarchische Willkür des "Alten Fritz" das Kammergericht erfolgreich anrief, von der evident politischen Urteilsfindung des Landgerichts abgewichen worden ist. Das ist keine Kleinigkeit, wenn man zurückblickt auf die Urteilspraxis der 16. Kammer des Landgerichts Berlin unter der Vorsitzenden Richterin Hengst, die zwischen 1996 und 1998 konsequent den Anträgen des AA folgte und, wie der Verlag in einer Pressemitteilung zu Recht schreibt, die "politisch gewünschten Urteile" fällte. In diesem Umfeld erstaunt es sogar, daß ein AA-Antrag beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Senioren, das Buch von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indizieren zu lassen, an der ablehnenden Haltung der Bundesprüfstelle scheiterte.

Andererseits ist zu fragen, ob das Buch, das nun ohne AA-Nachstellungenverbreitet werden darf, weiter in unkommentierter Fassung erscheinen sollte. Einmal abgesehen von den erwähnten Bedenken, ist dies auch eine Frage des intellektuellen Niveaus. Wer die brachiale Ästhetik der "Dokumente" einfach im Reprint multipliziert, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, sich in den Frontstellungen von 1939 einigeln oder simpel NS-Propaganda tradieren zu wollen. Frei nach Helmut Schelsky darf man dann sagen: Die Forschung tun inzwischen die anderen.

Zum Beispiel jene Gruppe deutscher und polnischer Historiker, die, wie in Fachkreisen seit Jahren bekannt, in polnischen Archiven nach Spuren polnischer, nach 1945 in den östlichen Vertreibungsgebieten an Deutschen begangener Verbrechen suchen. Ein Dokumentenband ist als Resultat dieser Recherchen soeben in polnischer Sprache veröffentlicht worden.

Wie Michael Ludwig in der FAZ vom 10. Juli mitteilt, wird dieser Band zur Zeit ins Deutsche übersetzt, um rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse vorgestellt werden zu können, auf der Polen bekanntlich im Mittelpunkt steht. Dieser erste Band behandle primär die Verantwortung der polnischen Behörden am Schicksal der zur Austreibung bestimmten Ostdeutschen. Drei weitere Bände sollen folgen, die auf ein gewachsenes polnisches Bewußtsein hindeuten, selbst Täter gewesen zu sein. Beachtlich ist zudem, daß Ludwig es für möglich hält, die alten Schemata könnten auch hinsichtlich der katastrophischen deutsch-polnischen Beziehungen zwischen 1919 und 1939 aufbrechen. Dazu vermag ein Reprint von 1940 aber wenig beizutragen.


 
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