© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/00 21. Juli 2000

 
Kolumne
Litauen
von Klaus Hornung

"Wie weit sind wir eigentlich vom nächsten Hitler-Stalin-Pakt entfernt?" fragt meine litauische Gesprächspartnerin. Sie spricht vom kürzlichen Besuch des deutschen Bundeskanzlers im Baltikum, der dort wenig Hoffnung auf einen Nato-Beitritt der drei Staaten dieser Region gemacht hatte. Das Trauma jenes Pakts der totalitären Diktatoren sitzt hier noch tief, zumindest bei den Wissenden, Denkenden und Geschichtsbewußten.

Die Mehrheit hat es freilich mit anderen Sorgen zu tun. Die zehn Jahre der neuen sozialen Freiheit sind vielfach wenig genutzt worden. Die Arbeitslosigkeit liegt in Litauen vor allem auf dem Land gebietsweise über 50 Prozent. Die landwirtschaftliche Produktivität sinkt, und die eigenen Agrarprodukte werden von der Agrareinfuhr aus der EU verdrängt. Bei der Jugend herrscht viel Perspektivlosigkeit, während die Tüchtigen nach Westen drängen. Was "oben" die Korruption ist, das ist "unten" der Alkoholismus. Die nachkommunistische Führungsschicht ist vielfach wenig überzeugend. Einzelne Persönlichkeiten, auch die drei tüchtigen baltischen Präsidenten Lennart Meri in Estland, Frau Voira Vike-Freyberga in Lettland und Adamkus in Litauen vermögen wenig daran zu ändern.

Die Bevölkerungsmehrheit ist auch in Litauen gegen den EU-Beitritt. Zur Begründung wird der Import westlicher Produkte angeführt, die für die Mehrheit viel zu teuer sind und die eigene Produktion niederhalten. Schon jetzt wird manches im Verhältnis zum Westen als koloniale Ausbeutung empfunden.

Es wäre hoch an der Zeit, gerade für das Baltikum einen überlegten "Marshall-Plan" zu verwirklichen, möglichst unter deutscher Federführung. Dabei wären dann freilich die Erfahrungen aus den Wirtschaftsbeziehungen der letzten zehn Jahre mit Rußland zu berücksichtigen und ähnliche Fehler zu vermeiden. Das meiste hinge aber auch dann vor allem von den eigenen Eliten und ihrer Unkorrumpierbarkeit ab.

Seit der formellen Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1991 ist viel Zeit vertan worden. Auch die deutsche Politik unter Helmut Kohl, mit ihrem ausschließlichen Starren auf Rußland, trägt dafür ein gerüttelt Maß an Verantwortung. Nicht eitles Herabsehen auf die vor der EU-Pforte Schlange stehenden Baltenländer ist angemessen, wohl aber eine besondere Hilfsanstrengung für diese von der Geschichte so gebeutelten Nationen.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart-Hohenheim.


 
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