© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/00 21. Juli 2000

 
Wie der Korken auf dem Wasser
Alt-Bundespräsident von Weizsäcker und ARD-Moderator Ulrich Wickert im Gespräch
Jutta Winckler-Volz

Da haben wir ja alle beisammen: den Star-Journalisten mit Frankreich-Fimmel, den frommen Ossi mit Professorentitel und den Übervater der BRD, den Sohn der Söhne, der seinen Vater verteidigte, obschon der, als mit den Beschlüssen der Wannsee-Konferenz Vertrauter und Ribbentrop-Adjunkt, eine Sohnes-Revolte durchaus verdient gehabt hätte. Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm: gelang dem Vater das Kunststück, nicht bloß am Wannsee (dort noch mittelbar), sondern auch an der päpstlichen Kurie (als Vertreter des Großdeutschen Reiches beim Vatikan) "dabeigewesen" zu sein, so scheint auch der jüngste seiner Sprößlinge in allen Sätteln gerecht.

Richard von Weizsäcker war als "Häuptling Silberlocke" selbst in seiner Christen-Union fast ein wenig populär geworden. Ob seiner angeblichen Rednergabe als "Silberzunge" gepriesen, soll ihm mit einer angeblich unvergessenen "Gedenkrede zum 8. Mai" etwas Epochales gelungen sein. Viel mehr ist von der zehnjährigen Amtswaltung des Mundwerksburschen nicht hängengeblieben. So mutet es wie Nachkarten aus latentem Selbstzweifel an, wenn der eitelste Edelmann der Berliner Republik quasi monatlich von sich reden macht. Dies geschieht heutzutage über die Medien. Man vergißt ganz, wer eigentlich Johannes Rau ist?

Fit wie ein Windhund und zäh wie Leder mischt sich "Ritschie", der hochbetagte Sportabzeichenträger, munter ein, neuerdings gar in die Belange der Bundeswehr. Dabei greift er, als hochdekorierter Wehrmachtsoffizier, gewiß auf seine Erfahrungen in infantristischer Frontverwendung vor Leningrad zurück. Ungediente Radfahrer wie Rudolf Scharping sind mit dem BRD-Wehr-Nomos 2000 plus überfordert.

Weizsäckers schwimmen seit über hundert Jahren nicht bloß wie Korken auf dem Wasser, sie sind auch Meister im Eintreten offener Türen. Das liest sich derzeit in FAZ, taz, Zeit usw. so: "Deutliche Worte hat er nie gescheut, nicht im Amt und nicht danach." "Wenn es darum ging, Wahrheit und Recht zu verteidigen, nahm er nie Rücksicht auf falsche Solidaritäten. Am wenigsten gegenüber der eigenen Partei." Denn sein Souverän scheint jene vierte Macht der Verfassungswirklichkeit zu sein, von der die Verfassungsnorm bislang nichts weiß: die veröffentlichte linksliberale Meinung. Da kannte, da kennt der Nobilitierte keine Verwandten. Da hat er fast was Französisches, womit wir bei seinem Gesprächspartner im hier anzuzeigenden Buch wären.

Denn Ulrich Wickert, dieser formatarme Sprößling (BRD – deine Sprößlinge!) eines Vaters von Format, hat es mit la douce France. Und verwechselt selbige chronisch in seinen politischen gemeinten Kochbüchern mit der Grande Nation. Beide Patentsprößlinge haben sich unterhalten. Aus dem Ergebnis solchen moralinsauer-süffisanten Plauderns glaubte dann ein Stuttgarter Verlag, ein Buch machen zu müssen. Um den Proporz zu wahren, lieferte DDR-Theologe Richard Schröder, wenngleich ein bürgerlicher, immerhin mal Kandidat aufs "höchste Amt" (eher: ein höchst entbehrliches), das Vorwort.

Vor dem gewiß geflackert habenden Kamin ging es um die CDU-"Spendenaffäre", um Ehrenwörter und Rücktritte, Amtsverzichte und Mandatsniederlegungen, die gefälligst zu geschehen hätten. "Ja, es ist eine Zumutung, sich vor dem Wähler auf ein ‘Manneswort‘ zu berufen." Wickert, der Gute-Nacht-Polit-Onkel der ARD, bohrt noch tiefer und läßt teilhaben an Sternstunden des "kritischen Journalismus": "Wiederholen Sie doch mal Ihre Ausführungen über Macht, Recht und Ehre am 20. Juli! Warum nicht auch die über Friedrich den Großen und die Zukunft der Vereinten Nationen?" Das gesamte Phönix-TV-Interview wird geboten, die wohlformulierten Antworten lassen mit der Zunge schnalzen. Inhalt? Wie gehabt.

Der Allzweck-Edelmann bietet dem Leser eine Art parlierte Autobiographie, gleichsam frisch von der Potsdamer Leber weg. Kenner der redseligen Materie werden freilich wenig Überraschendes finden. Ein Weizsäcker ist ein Weizsäcker ist ein Weizsäcker. Wenn parlamentarische Parteiendemokratie "gerade auch auf seiten des Souveräns von der Kraft des besseren, mündlich hervorgebrachten Argumentes" lebt, scheinen BRD und DDR mehr denn je aus politisch Taubstummen zu bestehen. Auch im vermeintlich "souverän gewordenen, zu voller Verantwortung gereiften" Vereinigungsdeutschland ist die nationalpolitische Demoralisierung flächendeckend. Bei sämtlichen relevanten Entscheidungen in den Nachkriegsdeutschländern war und ist das Argumentative, der "öffentliche Diskurs" (so er überhaupt stattfinden darf) lediglich "moderierte" Sättigungsbeilage; partizipatorische Akte durch das Volk, gar solche von entscheidendem Gewicht, waren und sind in beiden Verfassungsoktrois von 1949 nicht vorgesehen.

Von den BRD-relevanten Weizsäckers ist Richard derjenige, der es zeit seines öffentlichen Lebens verstand, der Sphäre tatsächlichen Entscheidens fern- zubleiben. Ein Gestalter war er nie; am ehesten noch läßt er sich als politischer freelancer fassen, der einschlägigen Interessenten gerade auf solch freischwebende Manier optimal geeignet erscheint, den Nachkriegs-Nomos der Besiegten von 1945 zu "verkaufen". Denn dessen unabsehbaren Fortbestand definiert die derzeit herrschende Klasse der BRD als "im nationalen Interesse liegend". Und darin macht dem Großredner keiner was vor.

So liest sich denn das Bändchen aus dem Schwäbischen als eine tour d’horizon unseres notorischen Krähwinkeltums, als Anweisung zur biedermeierlichen Selbstverzwergung einer mehr und mehr verblassenden Nation, die noch zu Zeiten des Studenten Weizsäcker auf allen wichtigen Handlungsfeldern Weltspitze war. Soviel sportlicher Ehrgeiz muß sein. Wenn der BRD-Demosthenes sich von RTL beim Sprung vom Kreuzberger Ein-Meter-Brett filmen läßt, um dem Publikum seine Rüstigkeit zu beweisen, steht der Mann in seinem Wesen vor uns. Man stellt sich aus und "führt", wo nicht durch "Reden", durch die pure eigne Existenz: Repräsentationsmystik in der massendemokratischen Postmoderne. Solche Schaumschlägerei empfindet Namensvetter Schröder im Huldigungsvorwort als "vorbildliches Handeln eines Staatsoberhauptes, das Maßstäbe gesetzt hat". BRD-Wilhelminismus mit DDR-Thrill. Fehlt bloß noch ein von Barbara Klemm bebilderter Prachtband Kohlscher Epochalreden mit Biolek-Vorwort und Gottschalk-Nachwort.

 

Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Ulrich Wickert: In der Freiheit bestehen. Mit einem Vorwort von Richard Schröder. Hohenheim Verlag ,Stuttgart/Leipzig 2000, 152 Seiten, 32 Mark


 
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