© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/00 21. Juli 2000

 
Identitäten jenseits des Nationalstaates
Institute für vergleichende Geschichte Europas an deutschen Universitäten
Ulrike Imhof

Historiker haben ihre eigene Art sich nützlich zu machen. Aus der so faszinierend unkomplizierten marxistischen Perspektive betrachtet, tragen sie vor allem ihr Scherflein zur Herrschaftssicherung bei, indem sie den Massen ein falsches Bewußtsein vermitteln. Bis 1918 erzählten sie den "Unterdrückten", daß die Weltgeschichte eine Abfolge von Haupt- und Staatsaktionen "großer Männer" sei. Enttäuscht vom "Staat", zumal in der parlamentarisch-demokratisch "schlappen" Form Weimars, entdeckten sie dann das "Volk" als bewegenden Beweger der Geschichte, das nach 1933 bei einigen Vertretern der Zunft zur "Rasse" mutierte. Nach 1945 diversifizierte sich das Angebot: die "Nation" war im geteilten Vaterland etwas außer Kurs gekommen, "Europa" wirkte noch reichlich utopisch und das "Abendland" mindestens ebenso reichlich antiquiert. Ab 1968 hieß der neue Universalschlüssel der Historiographen "Gesellschaft". Und seit 1989, in Zeiten forcierter Postnationalität: "Zivilgesellschaft".

Was darf man sich unter einer "zivilen Bürgergesellschaft" vorstellen, auf die jetzt auch, einem im Frühjahr veröffentlichten programmatischen Essay zufolge, Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Variante der "geistig-moralischen Wende" gründen möchte? Schröders Kritiker, wie etwa der stellvertretende Vorsitzende der SPD im Bundestag, Michael Müller, halten ihm und allen anderen Enthusiasten der "Zivilgesellschaft" entgegen, daß mit diesem Begriff im günstigsten Fall eine Selbsttäuschung verbunden sei (Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Heft 6/2000). Unter Hinweis auf die immer noch mitreißendste und aktuellste Globalisierungsanalyse, der des "Kommunistischen Manifests", konstatiert Müller mit Marx und Engels: Alles Heilige werde entweiht, alles Stehende verdampft. An die Stelle nationaler Selbstgenügsamkeit trete die allseitige Abhängigkeit. Der technisch-ökonomische Wandel stelle die tradierten Sicherheiten radikal in Frage: "Die Globalisierung frißt die Demokratie, die an die Institutionen des Nationalstaates gebunden wurde", dessen Souveränität vom virtuellen Weltstaat "Finanzkapital" ohne viel Federlesens einfach unterspült werde. Auf dem Weg in die von der "nichtdiskriminierenden Händlermentalität" geprägte "offene Welt" (Hans D. Barbier) trete "an die Stelle des sozialen und politischen Menschen der scheinbar nur noch private Mensch, der um so mehr nach Gemeinschaft und Identität sucht." Da es nach den Spielregeln des "großen Geldes" keine Rückkehr in die gewohnte Sicherheit von Nation, Region oder gar "Volk" geben darf, sondern im Gegenteil, der Auflösungsprozeß geradezu systemimmanent fortschreiten muß, könne, so argumentiert Müller, die "Zivilgesellschaft" nur die Abdankung des Politischen und die mit dem Abschied vom Nationalstaat bezahlte "Anpassung an die Zwänge der global entfesselten Ökonomie" verbrämen.

Nicht wenige deutsche Geschichtswissenschaftler, die sich seit Anfang der achtziger Jahre intensiv der "Nationalismusforschung" widmen, flankieren und befördern diesen Auflösungsprozeß. Ihnen gilt die Feststellung des 1933 emigrierten Soziologen Norbert Elias als Herausforderung, wonach das auf die Nation bezogene Wir-Gefühl den Habitus, die Gefühle, Verhaltensweisen, Normen und Orientierungen der Menschen in Europa zutiefst geprägt habe. Überfliegt man die Flut der Buchtitel zum Thema "Nation", spürt man den Ehrgeiz nicht nur bundesdeutscher Historiker, den von Elias diagnostizierten "Code der Identität" zu knacken und jeden methodischen Ansatz zu nutzen, um die Nation ideologiekritisch als "Erfindung", als "creation" oder "invention of tradition" zu dekonstruieren und für die Zukunft zu delegitimieren.

Parallel zu den neuen Studiengängen "Europawissenschaften" und "European Sciences", die sich seit geraumer Zeit an immer mehr Hochschulen, primär in deren wirtschafts- und rechtswissen- schaftlichen Fakultäten etablieren, sind nun auch die Historiker dazu übergangen, ihre Bemühungen zur postnationalen Identitätsstiftung zu institutiona- lisieren.Über das jüngstes und ehrgeizigstes Projekt berichtet die neue Ausgabe in der Zeitschrift Humboldt-Spektrum (Heft 1/2000). Darin wird das Berliner Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE) vorgestellt, das seit Mai 1998 in Dahlem beheimatet ist, unter dem Dach der Historiker an der FU Berlin, das aber auch einen zweiten Standort an der Humboldt-Universität bezogen hat, wo eine Reihe von Arbeitsplätzen für zumeist ausländische Gäste und Doktoranden eingerichtet wurde. Die Volkswagen-Stiftung hat das ZVGE mit acht Doktoranden-Stipendien ausgestattet, von denen die letzten in diesen Wochen vergeben wurden.

Die Nachwuchshistoriker forschen über Arbeiterkultur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Leipzig und Pilsen bzw. Baku und Odessa, über Schulpolitik der deutschen Minderheit in Polen zwischen 1918 und 1939, die mit jener anderer Minoritäten verglichen wird oder über den kurländischen Adel des ausgehenden Ancien régime als Trägerschicht der Modernisierung in den russischen Ostseeprovinzen. Darüber hinaus werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Habilitationprojekte verfolgt. Die Themen reichen hier von einer Studie über Opernhäuser in mittel- und osteuropäischen Metropolen über die Meinungs- und Marktforschung in der Nachkriegszeit bis zu den Lebenswegen von Akademikerinnen in der SBZ/DDR.

Verbindende Klammer für all diese Untersuchungen ist die Erfassung "transnationaler Prozesse". Denn einerlei, ob man sich mit der englischer Arbeiterkultur oder dem kurländischen Adel beschäftigt: im Wandel der Formen gilt es, die zivilgesellschaftliche Substanz, die nicht oder nur partiell auf die Nation fixierten Potenzen freizulegen. Die Nation ist ein luftiges Gebilde, das allenfalls im "Diskurs des Nationalen" und als eine, aus zivilgesellschaftlicher Retrospektive glücklicherweise überwundene Möglichkeit gesellschaftlicher Identitätsbildung darzustellen ist. Im Vordergrund steht hingegen die Erforschung von Ansätzen einer "europäischen Öffentlichkeit", der demokratischen "Modernisierung", der Ausbildung einer "partizipatorischen politischen Kultur". Exponenten der Bielefelder Historischen Sozialwissenschaft und des "Gesellschafts"-Paradigmas der siebziger Jahre, die Linksliberalen Jürgen Kocka, Holm Sundhausen und Hartmut Kaelble, geben als Direktoren den Rahmen vor für diese im ZVEG versuchte neue Identitätsstiftung unter dem Leitbegriff der "postnationalen citizenship".

Fast gleichzeitig mit der öffentlichen Präsentation der Forschungsvorhaben des ZVEG ist der erste Band des "Jahrbuchs für Europäische Geschichte" im Münchner Oldenbourg Verlag erschienen, wenn man so will der Elbchaussee unter den für Historikern verfügbaren Adressen. Federführend ist der Mainzer Historiker Heinz Duchhardt, dessen Institut für Europäische Geschichte im Mai das 50jährige Jubiläum seiner Gründung durch die französische Besatzungsmacht feiern konnte (JF 19/00). Duchhardt liefert zum Auftakt des neuen Periodikums eine instruktive Einleitung zum Thema "Europa-Diskurs und Europa-Forschung", die keinen Zweifel daran aufkommen läßt, daß er auch seine Arbeit als Historiker in die Tradition jener Intellektuellen und Politiker stellen möchte, die etwa als "Paneuropäer" seit den zwanziger Jahren bestrebt waren, die politische Einheit des Kontinents "vor"-zudenken. Der Bielefelder Nationalismusforscher Heinz-Gerhard Haupt unterstützt mit seinem cum grano salis eher die "manipulativen", "diffusen" und "engstirnigen" Dimensionen des Nationalbewußtseins konturierenden Überblick zum "Jahrhundert des Nationalismus" Duchhardts Plädoyer für eine historiographisch vermittelte europäische Identität. An ihrer Stiftung wird auch, im wenig EG-freundlichen Schweizer Umfeld, seit 1993 in Basel gearbeitet, wo mit dem Europainstitut der dortigen Universität ein "Kompetenzzentrum für Fragen der europäischen Integration" entstanden ist, dessen Aktivitäten im Jahrbuch von Georg Kreis gewürdigt werden.

Duchhardt verweist auf ein 1992 veröffentlichtes, die Erwartungen aber enttäuschendes "Europäisches Geschichtsbuch" und die eher ernüchternden Resultate Braunschweiger Schulbuchforscher aus dem Jahre 1995 ("Macht Europa Schule? Die Darstellung Europas in Schulbüchern der EG"). Mittlerweile habe aber jeder renommierte Verlag eine "europäische Reihe" und "Europa" sei so en vogue, daß man sich mit diesem Epitheton an der Spitze der wissenschaftlichen Avantgarde wähne. Dies fällt freilich um so leichter, je kräftiger die wissenschaftspolitische Förderung dieses neuen postnationalen, vermeintlich globalisierungsresistenten Identitätsangebots ausfällt.

 

Literatur: Jahrbuch für Europäische Geschichte. Bd. 1, Oldenbourg Verlag, München 2000, 239 Seiten, 78 Mark; Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hg.), Europäische Geschichte als Historiographisches Problem, Verlag Philipp von Zabern, Mainz 1997, 205 Seiten, 45 Mark.


 
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