© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/00 21. Juli 2000

 
Flirten im Internet: Ein Mausklick und man ist mitten im Getümmel
Rendezvous im Weltnetz
Gero Brandes

Die Zeiten haben sich geändert: Längst vergangen sind die Tage, an denen die Familie X. nach einem Sonntagsspaziergang durch die Natur den Tag mit einer schönen Partie "Mensch-ärger-dich nicht!" ausklingen ließ. Heute fristen viele Deutsche ein Single-Dasein, Familien haben im Durchschnitt 1,2 Kinder, und Erziehung findet vor allem vor dem Fernseher oder dem Computer statt. Klar, daß die zwischenmenschliche Kommunikation dabei verarmt. Dieser Mißstand führte dazu, daß im Land der Dichter und Denker auch das Flirten nicht mehr das ist, was es einmal war. Denn wenn es etwas gibt, was das eine Geschlecht in der pubertären Phase vom anderen fernhält, dann ist das nicht etwa die Zahnspange oder der peinliche schüttere OliBa (Oberlippenbart), sondern schlicht die Angst vor Gesprächen. Statt mit der angebeteten Herzensdame über das Wetter zu sinnieren, möchte man lieber gleich "voll konkret" wie Stefan und Erkan anfangen. ("Eye, voll brontal meine neue Sonnenbrille, damit kann isch voll kraß meiner Bratze in die Wurzelritze gucken, ohne daß die Ische was davon merkt.")

Der gute alte Flirt ("Darf ich mit dir gehen?") ist also am Ende, schon Kindergartenkinder, die in aller Regel noch nicht einmal ihren Namen schreiben können, sind in der Lage, "Ficken" zu buchstabieren. Wer hilft unserer flirt- und romantikfaulen Jugend? Dr. Sommer, Pfarrer Fliege? Nein, es ist das Internet. Denn hier schließt sich der Kreis: Die Medien, die den deutschen Nachwuchs im Kindesalter mittels Pokémons und anderen Monstern (zu meiner Zeit hießen sie noch Ducktales oder Familie BaBaPaPa) systematisch vor die Hunde haben gehen lassen, haben den Flirt für sich entdeckt: Neben der Pflaume von Sat.1 und etlichen kreischenden TV-Girlies von ARD bis VIVA ist es vor allem das Internet, das glaubt, von der akuten Flirtschwäche profitieren zu müssen: In unzähligen Chaträumen wird Jugendlichen eine Möglichkeit gegeben, sich über Liebe, Schönheit und Beziehung zu artikulieren. Doch wer hier Sätze wie "Mein schönes Fräulein, darf ich’s wagen?..." erwartet, wird bitter enttäuscht sein. Der Laie ist aufgeschmissen wenn er kryptische Satzkreationen wie "Rubbeldibubbel", "ich wills mit dir *lol*" oder "Cu all *grins*" entziffern muß.

Schon die sogenannten "Nicknames", die Pseudonyme der Chatteilnehmer, bieten wenig Platz für Romantik: Hier chattet "Sexygirl" mit "Gigolo", "Schwanz 1b"mit "Lolobrigida" oder mit "Körpchengröße 85a". Auch ich wurde zu meiner tiefsten Betroffenheit im Chatroom unschicklich von einer Dame namens "90-60-90" angesprochen ("Hab nur Höschen" an), so daß ich den Chat selbstverständlich sofort wieder verließ. Dieser Vorfall ist weder ein Einzelfall, noch darf er representativ für die "Chat-Szene" gesehen werden. Das Internet ist nämlich nicht nur ein Spiegel der Gesprächskultur, er ist auch eine Kulturrevolution für zwischenmenschliche Kontakte. Denn im Gegensatz zum Fernsehen wird beim Internet aus dem Konsumenten eine aktive Person, die plötzlich mit anderen Menschen Kontakt aufnehmen kann. Das ist eindeutig ein positiver Effekt. Das führt dazu, daß tausende von Menschen, die vielleicht im "wirklichen Leben" viel zu schüchtern wären, um andere Menschen anzusprechen, als "Chatjunkies" tagelang vor ihren Computern hängen und sich mit anderen Internetnarren austauschen – einmal ganz abgesehen von den politischen Umwälzungen, die auf dem heimischen Bildschirm stattfinden: Proteste der Linken gegen Kriegsminister Joschka Fischer 1999, das Internetforum gegen Jürgen Rüttgers im nordrhein-westfälischem Landtagswahlkampf oder das Aufbauen einer "Community" mit dem ersten deutschen Internet-Kanzler Tim Peters sind nur ein paar Beispiele dafür, daß das Internet durchaus auch ein Gewinn für die in anderen Bereichen unserer Gesellschaft noch sehr stiefmütterlich behandelten Demokratisierungsprozeß darstellt.


 
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