© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/00 28. Juli / 04. August 2000

 
LOCKERUNGSÜBUNGEN
Berechenbarkeit
Karl Heinzen

Die demokratische Gesellschaft akzeptiert auch inakzeptable Methoden der sozialen Auseinandersetzung, wenn sie dadurch verhindern kann, daß das Bemühen um individuelle Besserstellung eine politische Dimension gewinnt. Die Arbeiter der Textilfabrik "Cellatex" in dem "bitterarmen Ardennenort Givet" (Handelsblatt) haben daher mehr als nur Glück gehabt, als sie sich mit dem unerwarteten Rückgriff auf die schon fast vergessen geglaubten Regieanweisungen der Direkten Aktion ihren ganz persönlichen Sozialplan erstritten. Sicherlich kann es in dem Bemühen um den Erhalt von Arbeitsplätzen nicht der Regelfall sein, daß ein Werksgelände besetzt und die Sprengung der Fabrik mitsamt des angrenzenden Wohnviertels angedroht wird, und sicherlich ist ein ökologischer Einwand nicht ganz zu ignorieren, wenn aus Protest 5000 Liter Schwefelsäure in einen Fluß abgelassen werden, auch wenn es sich hier bloß um einen Nebenfluß handelte. Zu honorieren ist jedoch die Bereitschaft, bei aller Zurschaustellung des Mutes zum Rechtsbruch doch im Herzen käuflich zu bleiben und damit jenen gemeinsamen Boden nicht zu verlassen, der unser Miteinander berechenbar macht. "So viel haben wir gar nicht erwartet", sollen die Ehemaligen von "Cellatex" dennoch gestaunt haben, als ihnen ihr Vorgehen zu guter letzt zwei Jahre Lohnfortzahlung, 80.000 Francs Abfindung sowie die obligatorischen "Umschulungsmaßnahmen" bescherte. Zugleich bleibt es ihnen erspart, ihr Wohl weiterhin mit dem eines Unternehmens zu verknüpfen, das in der Garantie ihrer Arbeitsplätze so eklatant versagt hat.

So spektakulär die Ereignisse in Givet auch schienen, so wenig sollte man sich jedoch weder von ihnen noch von ihrer Neuauflage in der Brauerei Adelshoffen im Elsaß beunruhigen lassen. In den immer neuen und immer gleichen Verhandlungen zwischen Sozialpartnern ist es unerläßlich, daß jeder vom anderen weiß, wie weit er zu gehen bereit ist, sonst läßt sich nie ein Ergebnis finden, mit dem alle klar kommen. Wichtiger als die finanzielle Aussteuerung dieses Ergebnisses im Detail ist es aber, daß die strukturell Schwächeren im Vertrauen auf ein Gemeinwesen, das auch sie einbezieht, leben dürfen.

Hierzu leistet ein sozialer Rechtsstaat dadurch einen wichtigen Beitrag, daß er nicht allein über die Regelverstöße jener hinwegzusehen vermag, deren Vermögen genug Aussicht bietet, mit einem gegen sie angestrengten Verfahren zurecht zu kommen. Wer bei der Expropriation der Gesellschaft durch ihre Gesellschafter zu kurz kam, soll, im Vollbesitz seiner Mittel der politischen Demokratie, zumindest sein Losglück versuchen dürfen.

Sicherlich kann die Zwei-Drittel-Gesellschaft ihre Probleme nicht lösen, aber sie kann gut mit ihnen leben. Voraussetzung dafür ist, daß die von ihr Betroffenen davon überzeugt werden können, durch Stillhalten die Aussicht auf die Besserung ihrer Lage nicht zu verlieren. Zum Nulltarif ist diese Einsicht allerdings nicht zu haben.


 
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