© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/00 28. Juli / 04. August 2000

 
Annäherungen an den verlassenen König
Die deutsche Mediävistik zwischen Strukturgeschichte und politischer Geschichtsschreibung
Hartmut Jericke

Zu den tragischen deutschen Herr schergestalten des Mittelalters zählt sicherlich der Stauferkönig Heinrich (VII.), Sohn Kaiser Friedrichs II. und dessen erster Gemahlin Konstanze von Aragon. 1211 auf Sizilien geboren, ließ ihn Friedrich 1216 nach Deutschland holen. Angeblich ohne das Wissen des Vaters, der 1220 zur Kaiserkrönung nach Italien zurückkehrte, wurde der kleine Heinrich von den Reichsfürsten zum deutschen König gewählt und 1222 in Aachen gekrönt. Bis zum Ende seiner Minderjährigkeit waren ihm zunächst Erzbischof Engelbert von Köln, danach bis 1228 Herzog Ludwig von Bayern als Reichsverweser zur Seite gestellt.

Nach dem Zerwürfnis mit Ludwig, versuchte Heinrich ab Ende 1228 selbständig zu regieren. Dies wurde ihm jedoch von Anfang an dadurch erschwert, daß es ihm aufgrund der kaiserlichen Autorität seines Vaters nur sehr beschränkt gelang, herrschaftlichen Einfluß bei den deutschen Fürsten geltend machen zu können. Entsprechend schmal war die Basis seiner Wirkungsmöglichkeiten. Als sich dann herausstellte, daß Heinrich insbesondere aus dem staufischen Herzogtum Schwaben heraus eine eigenständige Hausmachtpolitik mit dem Ziel einer Stärkung des Königtums zu verfolgen begann, geriet er schnell in einen offenen Konflikt und Gegensatz mit den Fürsten. Gestützt auf die beiden Privilegien Kaiser Friedrichs aus den Jahren 1220 und 1232 zum Vorteil einer fürstlichen Eigenpolitik in Deutschland, wollten die Reichsfürsten keine königliche Politik hinnehmen, die ihren Versuchen eigener Territorialbildungen zuwiderlaufen könnte. So vergrößerte sich sehr bald die Schar der fürstlichen Gegner des Königs, die auch nicht davor zurückschreckten, den Sohn bei seinem kaiserlichen Vater in Italien zu desavouieren. Friedrich, der auf die Unterstützung der deutschen Fürsten für seine Politik in Italien und gegenüber der päpstlichen Kurie zählte, wollte die eigenmächtigen Pläne seines Sohnes in Deutschland nicht unterstützen. Nach mehreren Ermahnungen und Abmahnungen an die Adresse seines Sohnes zog der Kaiser 1235 von Italien nach Deutschland und setzte Heinrich, der zuvor mit Gewalt gegen Anhänger seines Vaters vorgegangen war, auf entwürdigende Weise ab. Als Gefangener wurde er sodann ins Königreich Sizilien überführt, wo er möglicherweise durch Selbstmord 1242 starb. Ganz ähnlich wie im Falle Kaiser Heinrichs VI., dem Großvater Heinrichs (VII.), hat die mittelalterliche Forschung der Person des unglücklichen Königs und seiner politischen Pläne lange Zeit wenig Aufmerksamkeit zukommen lassen. So ist die Biographie von Emil Franzel aus dem Jahre 1929 noch immer die jüngste, auf den Quellen basierende wissenschaftliche Gesamtdarstellung dieses Stauferherrschers. Seit kurzem liegt nun wenigstens der erste Teil von Peter Thoraus neuer Biographie Heinrichs (VII.) vor. Sie behandelt indes nur den Zeitraum bis Ende 1228 und kann daher nur bedingt zu einer Neubewertung des Königs, seiner politischen Pläne und letztlich der Gründe für sein Scheitern beitragen. Diese Lücke möchte Christian Hillen schließen: Anhand einer Untersuchung der Hofstruktur nach den Zeugen von Heinrichs Urkunden, dessen eigene Reisegewohnheiten sowie der regionalen Verteilung der Empfänger seiner Briefe, Privilegien und deren Bestätigungen soll ein Bild entstehen, "das den äußeren Bedingungen und Grenzen der Herrschaft Heinrichs (VII.) schärfere Konturen gibt" (Hillen).

In der mittelalterlichen Geschichtsforschung ist die Untersuchung von Strukturen aller Art heutzutage beinahe zu einer eigenen Forschungsrichtung geworden. Gemessen an den damit verbundenen Kriterien ist dem Autor daher auch durchaus zu bescheinigen, eine Fleißarbeit vorgelegt zu haben. Auf insgesamt 150 Seiten mit rund 800 Anmerkungen hat er allein im Anhang aufgrund der bekannten Urkunden genau aufgelistet, welche Personen aus jeweils welchen Gegenden des deutschen Königreichs je wann, wie oft und wo am Königshof Heinrichs (VII.) nachweisbar sind. Daß die aus Urkundenbüchern bzw. Regestenwerken herangezogenen Urkunden unzweifelhaft echt bzw. authentisch sind, wurde dabei stillschweigend vorausgesetzt. Methodisch stützt sich Hillen durchgängig auf die Auswertung der umfangreichen Sekundärliteratur, um die von ihm namhaft gemachten Anwesenden am königlichen Hofe zu identifizieren und deren tatsächliche oder vermeintliche Beweggründe zu beschreiben. Diese Personen werden insgesamt sechs Großregionen zugewiesen, in die der Autor das Gebiet des deutschen Königreichs aufteilt. Daß dabei auch das Elsaß, fester Bestandteil des damaligen Herzogtums Schwaben und ein Kerngebiet staufischer Herrschaft, als eigene "Großregion" festgelegt wird, hat der Leser ohne Erklärung hinzunehmen.

Wie wenig wir tatsächlich über die allermeisten der in den Urkunden aufgeführten Personen wissen, zeigen die zahllosen Mutmaßungen und Annahmen, mit denen sich der Autor auf nahezu jeder Seite begnügen muß. Erzählende Quellen werden dagegen kaum herangezogen. Nur selten werden sie in den Fußnoten erwähnt oder zitiert. Am Ende bleibt die ratlos gestellte Frage nach dem Erkenntnisgewinn derartiger Zusammenstellungen.

Dies führt zu dem grundsätzlichen Dilemma, in dem die Geschichtsforschung in den deutschsprachigen Ländern heute steckt. Man beschäftigt sich mit soziologischer, psychologischer oder eben auch Strukturgeschichte. Politische Geschichtsschreibung ist dagegen immer weniger Inhalt historischer Forschung. Dies nicht zuletzt deshalb, weil diese nicht selten mit der Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts gleichgesetzt und deshalb für weitgehend obsolet erklärt wird. Ob und inwieweit die Rückdrängung der politischen Geschichtsschreibung in Deutschland auch mit dem Verblassen eines eigenen Staatsethos korreliert, mag dahingestellt bleiben. Schon in den zwanziger Jahren trug man gute Argumente dafür vor, daß die akademische Expansion der "Kulturgeschichte" ein erodierendes Staatsverständnis indiziere.

Geschichte, wie wir sie wahrnehmen, ist aber immer auch Geschichte von Menschen in einflußreicher Positionen, denen man unterstellen muß, daß sie in ihrem jeweiligen Handeln etwas bewegen und gestalten wollten, die demnach auf durchaus unterschiedliche Weise politisch tätig waren. Dieses Handeln offenbart sich dem Historiker durch das Fragen nach dem Warum und dem Wozu. Die Beantwortung jener von Hillen gestellten Fragen: Wer, wann, wo, wie oder wie oft, kann hingegen nur ergänzendes Mittel zum Zweck sein. Das Erfragen der Handlungsmotive und -zwecke historischer Figuren durch politische Geschichtsschreibung führt vielleicht zu unbefriedigenden oder unvollständigen, mitunter auch zu falschen Antworten und ist daher immer wieder revisionsbedürftig. Aber die entscheidenden Fragen für das Verständnis von Geschehenem werden wenigstens gestellt und auch beantwortet. Strukturgeschichtliche Forschung auf der Basis einer alles in allem ziemlich spärlichen Quellenlage, wie sie hier versucht wurde, ist Kompilierung von weitgehend Bekanntem mit einem Erkenntnisgewinn, welcher in einem fragwürdigen Verhältnis zum investierten Aufwand steht.

Auf Hillens Studie appliziert heißt das, daß "schärfere Konturen" der Herrschaftsausübung Heinrichs (VII.) mit Hilfe strukturgeschichtlicher Forschung nicht gezeichnet werden können, solange die Frage nach den politischen Beweggründen und Zielen nicht ebenfalls gestellt werden. Bis heute sind in diesem Zusammenhang zahlreiche wichtige Fragen für das Herrschaftsverständnis des "verlassenen Königs" nicht abschließend geklärt. Verfolgte dieser etwa tatsächlich und trotz des Privilegs seines kaiserlichen Vaters zum Nutzen fürstlicher Eigenpolitik (Statutum in favorem principum) von 1231/32 eine eigenständige Hausmachtpolitik mit dem Ziel der Stärkung des Königtums? Inwieweit arbeitete Heinrich bereits an den Grundlagen seiner eigenen Herrschaft für die Zeit nach der Ära seines Vaters? Auch die Umstände der in der deutschen Geschichte einmaligen entwürdigenden Absetzung des rechtmäßig gewählten und gekrönten deutschen Königs durch den Kaiser bedürften weiterer Untersuchungen. So wird man sich vorläufig noch gedulden müssen, bis Peter Thorau den zweiten Band seiner Biographie über Heinrich (VII.) vorlegen wird, dem man ein baldiges Erscheinen wünscht.

 

Christian Hillen: Curia Regis, Untersuchungen zur Hofstruktur Heinrichs (VII.) 1220-1235 nach den Zeugen seiner Urkunden. (Europäische Hochschulschriften Reihe III/837) Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 1999, 429 Seiten, 118 Mark


 
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