© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/00 11. August 2000

 
Stigma deutsch
Ein Beitrag zur Duskussion um den deutschen Rechtsextremismus
Volker Kempf

Ein Stigma – oder weniger modern ausgedrückt: ein Brand- oder Schandmal – verweist, wie der Name es ankündigt, auf eine Schande. Die Schande der Deutschen stellen die nationalsozialistischen Verbrechen dar. Nach dem Krieg wurden die Tore der Konzentrationslager geöffnet, und das Volk mußte sich anschauen, was geschehen war. Der Schock saß tief – bis heute. Die Frage nach der Kollektivschuld wurde damit aufgeworfen und von Carl Gustav Jung über die schweizerische Grenze hinweg bejaht - zum Ärger von Gegnern des Naziregimes wie Erich Kästner. Seither fühlen sich die Deutschen meist wie die Gebrandmarkten. Was gebrandmarkt ist, droht ausgegrenzt oder anderweitig diskriminiert zu werden. "Deutschland verrecke" lautet denn auch ein beliebter Punkerspruch, der sogar in einen Vers aufgeht: "Hitler ist tot / Nazis sind krank / Deutschland verrecke / Es lebe der Punk." Und weil es so schön ist, andere beliebig zu stigmatisieren, wird aus "Nazis" flugs ein Helmut Kohl: "Hitler ist tot / Kohl ist krank / Deutschland verrecke / Es lebe der Punk." Gewiß, Klosprüche – aber nichts als Klosprüche? Der Wunsch nach einem verreckenden Deutschland korrespondiert mit einer weitverbreiteten Haltung, besagter Staat möge sich als gut erweisen, indem er sein Portemonnaie weit aufhält. Ein Sozialstaatspatriotismus läßt sich darauf aufbauen, mehr nicht. Irgendwann ist der Staat dann an seinen Grenzen angekommen und scheitert.

Eigenartigerweise fallen eine antideutsche und eine sozialistische Gesinnung zusammen. Das war schon zu Zeiten der DDR so. Dies ist auch kein Wunder. Deutschland (West) galt als Inbegriff des Kapitalismus. Dessen Untergang hatte Karl Marx prophezeit, dem angeblich gleichsam naturgesetzlich – über eine blutige Revolution versteht sich – der Sozialismus als Endziel der Geschichte folgen sollte. Für Marx verband sich damit die paradiesische Vorstellung von Maschinen, die arbeiten, Menschen, die mit reichlich materiellen Gütern versorgt werden und viel Freizeit haben, um fischen zu gehen. Wie wir heute wissen, ist dieser Zustand entgegengesetzt der Marxschen Annahme im Kapitalismus vorzufinden, während der Sozialismus über das Stadium einer Strukturkrise nie hinauskam und letztlich zusammenbrach. "Deutschland verrecke" korrespondiert so gesehen also mit einem "Es lebe der Sozialismus". Darauf sollten wir verzichten können.

Rechtsextreme Vorfälle kommen den Sozialisten gerade gelegen, um ihre Ideologie dem Volk unterzujubeln, das geneigt ist, alles zu unterstützen, was dem Spuk ein Ende zu bereiten verspricht. Bemerkenswerterweise ist es aber gerade jener Teil Deutschlands, in dem augenfällige Probleme mit rechtsextremen Vorfällen existieren, der vormals sozialistisch war. Die DDR hatte mit jeder Vorstellung von Deutschland als Kulturnation gebrochen gehabt. Das Kyffhäuser-Denkmal aus Kaisers Zeiten sollte sogar abgerissen werden, was dann aber doch noch unterlassen wurde, um dafür ein sozialistisches Gegendenkmal in die Landschaft zu stellen, das aussieht, als sei eine große Dose vom Himmel gefallen. Der Sozialismus war eben sehr abstrakt und passte nie richtig in die Lebenswelt auf Erden. Was bleibt von der deutschen Kulturnation im Osten Deutschlands, wo diese abgeschafft wurde und ihr Substitut, der Sozialismus, zusammengebrochen ist? Nichts! Die Ressource "Volk" und "Nation" zu erschließen läuft ins Leere, manche Jugendliche laufen Amok. Ein solcher Amoklauf wird um so attraktiver, als die Aufmerksamkeit durch die Medien steigt, je auffälliger dieser stattfindet, nach dem Motto: "Besser schlecht auffallen, als gar nicht."

Auch im Westen Deutschlands gibt es Gewalt. Auffällig ist allerdings, daß vorschnell meist "Nazis" verantwortlich sein sollen. So schrieb das Boulevardblatt Düsseldorfer Express Ende Juli nach der Explosion einer Splitterbombe in Düsseldorf-Wehrhahn in großen Lettern auf der Titelseite von einer "Nazi-Bombe". Amerikanische Jungs, die mit Maschinenpistolen wild in der Schulklasse herumschießen: sind das auch Nazis? Man kann es in der Tat nicht ausschließen, daß der Täter von Düsseldorf-Wehrhahn ein Hitler-Fan ist. Aber das weiß im Moment nur der wahnsinnige Verbrecher selbst. Vielmehr liegt hier eine Verschwörungstheorie vor, die man daran erkennt, daß aus ihr heraus eindeutig hervorgehen soll, wer der Schuldige ist, obwohl dies immer nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit behauptet werden kann. Ebenso bemerkenswert ist, daß im Zuge des genannten Vorfalls Initiativen gegen rechts entstanden sind. Grenzen zwischen rechts und rechtsextrem scheint es dabei keine mehr zu geben, wenn man die örtlichen Tageszeitungen aufschlägt. Wenn dem so sein sollte, wie es da vielfach geschrieben steht, dann bleibt nur noch ein politisch links stehendes Land übrig. In der DDR gab es bekanntlich auch nur linke Parteien. So scheinen die rechtsextremen Auswüchse, die nicht wegzudiskutieren sind, gut genug zu sein, um ein Land zu legitimieren, das sich politisch als links definiert. Wo es keine Rechte mehr gibt, gibt es schließlich auch keine Mitte mehr. Denn die müßte rein logisch beim Nullpunkt liegen – zwischen links und rechts. Links heißt hier so viel wie linkssozialistisch und damit mehr Umverteilung und weniger Selbstverantwortung. Daran droht Deutschland wirtschaftlich zu scheitern. Und wo die Wirtschaft am Ende ist, da sind soziale Konflikte vorprogrammiert. Auch gilt: wenn alles, was nicht links ist, diffamiert wird, indem man es mit rechtsextrem (also verfassungsfeindlich) gleichsetzt, dann ist es um die Freiheit des Denkens schlecht bestellt. Das "Stigma deutsch" wird zum "Stigma rechts". Analog könnte man auch einen Willy Brandt mit RAF-Terroristen in eine Schublade stecken. Das geht doch wohl schief.

Wenn wir Deutschen kein gesundes Nationalbewußtsein entwickeln, den Ausruf "Deutschland verrecke!" nicht durch ein "Es lebe Deutschland!" ersetzen können, dann werden wir Deutschen Meister der Exaltation bleiben: zu stolz hier, zu demütig dort. Eine ziemlich explosive Spannung.


 
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