© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/00 11. August 2000

 
Die Ethnisierung der Parteipolitik
Ungarn: Zigeuner erwägen eigene Parteigründung
Alexander Barti

Wer in Ungarn von "Roma" oder "Sinti" spricht, wird es in dem Glauben tun, politisch korrekt zu formulieren. Daß er dabei aber die ungarischen Zigeuner beleidigt, werden die wenigsten wissen, denn "Roma" ist in ihren Ohren eine abwertende Bezeichnung, die man allenfalls für die – wenig geschätzten - rumänischen Brüder benutzen darf. Über diese Feinheiten setzt sich allerdings auch ein Großteil der ungarischen Presse hinweg, man will offenbar auch auf diesem Gebiet EU- konform sein.

Ende Juli berichtete die renommierte ungarische Tageszeitung Magyar Nemzet auf ihrer ersten Seite, daß die Selbstverwaltung der ungarischen Zigeuner (Országos Cigány Önkormányzat, OCÖ) die Bildung einer politischen Partei beabsichtige. Diese Mitteilung wurde zunächst von den Medien und Parteien ignoriert, die ansonsten immer sehr leidenschaftlich die Minderheitenfrage aufgreifen und die Regierung mit Rügen überschütten. Das betretene Schweigen dürfte also nichts mit dem Sommerloch zu tun haben. Erst nachdem Florian Farkas, Chef der OCÖ, auch noch ein Interview zum besten gab, zeigten sich verhaltene Reaktionen. Csaba Tabajdi, der Referent für Minderheitenfragen bei den oppositionellen Sozialisten (MSZP), wollte keine Prophezeiung über die Überlebensfähigkeit einer Ethno-Partei abgeben. Gábor Kuncze, der Vorsitzende der linksliberalen SZDSZ, erklärte, daß eine Parteigründung die Probleme der Zigeuner sicher nicht lösen werde. Liberale und Sozialisten erklärten außerdem, die Regierung solle endlich die Vertretung der Minderheiten im ungarischen Parlament lösen, denn dann wäre die Parteigründung der Zigeuner überflüssig. Warum gerade die Linken die anstehende Parteigründung fürchten, liegt auf der Hand: bis jetzt konnten sie vor jeder Wahl den "Zigeuner-Joker" ausspielen und so mit geringem Aufwand einige 100.000 Wahlstimmen einfahren. Daß die vollmundigen Versprechungen über mehr Gleichberechtigung, positive Diskriminierung und andere soziale Unterstützungen nach der Wahl schnell in Vergessenheit gerieten, beweist nicht nur die Tatsache, daß der soziale Abwärtstrend der Minderheit auch unter der sozialistisch-liberalen Regierung Horn in keiner Weise gebremst oder gar umgekehrt wurde. Insofern ist es verständlich, wenn die organisierten Zigeuner genug von den Wahlversprechen haben und ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen wollen. Allerdings birgt die Parteigründung auch einige Gefahren in sich: die ungarischen Zigeuner sind in viele Gruppen gespalten und, was am gravierendsten ist, sie verfügen nur über eine sehr kleine Schicht akademisch Gebildeter. Diejenigen, denen der soziale Aufstieg in Reichtum und Ansehen gelungen ist, werden sich ungern vor den politischen Karren einer Gemeinschaft spannen lassen, der sie mit Mühen entfliehen konnten. Sollte die Partei keinen Erfolg haben, hätte sie politisch nicht nur den Zigeunern geschadet, sondern auch den anderen Minderheiten. Wenn die Zigeuner- Partei aber bei den anstehenden Wahlen 2002 in das Parlament einzieht, könnte das ein Signal für Mitteleuropa sein, denn z. B. auch in der Slowakei und in Rumänien gibt es eine große Roma-Minderheit. Ob die ethno-politische Segmentierung das friedliche Zusammenleben der Völker in der Europäischen Union fördern wird, bleibt eine Frage, die auch ohne "Öffentlichkeit" an Brisanz zunehmen wird.


 
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