© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/00 11. August 2000

 
Straße der Schande
Im Grenzgebiet zwischen der Bundesrepublik und Tschechien blüht das Geschäft mit Prostitution und Frauenhandel
Paul Leonhard

Im Grenzraum zwischen Adorf bei Plauen und dem tschechischen Eger (Cheb) blüht die Prostitution ebenso wie entlang der Europastraße 55, die von Dresden über Tetschen (Decin) bis nach Prag führt. Die Hauptverkehrsader zwischen der sächsischen Landeshauptstadt und der tschechischen Metropole gilt seit 1990 als der längste Straßenstrich Europas. Allein auf den wenigen Kilometern zwischen dem sächsisch-böhmischen Grenzort Zinnwald und dem im Tal liegenden Eichwald (Dubi) haben sich knapp zwei Dutzend Freudenhäuser etabliert. Viele Tschechen sprechen von der "Straße der Schande".

Unübersehbar ist auch in Eger das Geschäft mit dem Sex. In der im Dreieck von Bayern, Sachsen und Thüringen gelegenen westböhmischen Stadt boomt der Sextourismus. Leichtbekleidete Mädchen halten am Straßenrand nach Freiern Ausschau, Puffs locken mit bunter Leuchtreklame. In der 32.000-Einwohner-Stadt und ihrer unmittelbaren Umgebung gibt es rund hundert Bordelle sowie, nach Angaben der sächsischen PDS, eine offene Kinderprostitutionsszene. Der größte Teil der Prostituierten sei erst zwischen 12 und 16 Jahren alt, hat die PDS-Landtagsabgeordnete Cornelia Ernst recherchiert. Viele würden bereits seit ihrem fünften Lebensjahr im Rotlichtmilieu "arbeiten". Selbst behinderte Kinder würden anschaffen.

Von einer "Horrorregion Egrensis" spricht Hans-Jürgen Mertha, ehemaliger Kripobeamter und parlamentarischer Berater der PDS-Fraktion im sächsischen Landtag. Er hatte im Frühjahr gemeinsam mit Cornelia Ernst zwei Streetworker des Projektes "Karo" eine Nacht lang in der Euroregion Egrensis begleitet. Das Bild, welches sich den beiden bot, beschreibt Mertha in einem im Internet veröffentlichen Erfahrungsbericht: "Die Busse, vollgepfropft mit geilen Sachsen, Bayern oder noch von weiter her, prägen das Stadtbild im Bereich dieser Lusthöhlen. Trunkene, laute deutsche Worte schwirren durch die Luft. Billig tanken, billig einkaufen, billig ficken, schöner kann es doch für den achtbaren Deutschen gar nicht sein."

Unerträglich widerlich werde es auf den Einfallstraßen nach Eger und im Kern der alten Stadt selbst. "Keine Straße nach Eger, keine Gasse, kein Straßenzug in und am Rande der City ohne kleinere Gruppen minderjähriger Mädchen, so ab 12 Jahren, zum teil hochschwanger; sie bevölkern Fußwege und Straßenränder. Sie sind nicht schön im Sinne des Gewöhnlichen, sie sind abgehärmt, von Rauschgiften und Krankheiten gezeichnet. Zumeist in Anoraks oder Trainingsanzüge gewandet, warten sie auf die überwiegend alten Männern, die ihre jungen Körper kaufen wollen."

Fast alle der Mädchen seien drogenabhängig, viele würden an Geschlechtskrankheiten und Hepatitis C leiden. Sie habe mit einer nicht krankenversicherten 15jährigen Schwangeren gesprochen, die trotz schwerer Hepatitis-C-Erkrankung auf den Strich ging, teilte die entsetzte PDS-Abgeordnete in einem Offenen Brief an die sächsische Staatsregierung mit.

Auf tschechischer Seite bemüht man sich um Beschwichtigung. In den Bereichen Warnsdorf (Varnsdorf) und Tetschen habe man bisher nichts von einer "öffentlich angebotenen Kinderprostitution" bemerkt, teilt das im Auftrag der Diakonie Zittau tätige Streetworkerteam Magdalenium Liberec (Reichenberg) mit: Wer derart kategorisch eine "massive Verbreitung der Kinderprostitution in Tschechien" feststelle, sollte "die Gewohnheiten der sozialen Gruppen, die sich in dieser Szene bewegen", kennen. Eine qualifizierte Stellungsnahme zur Problematik könne ohnehin nur die tschechische Polizei geben.

Diese ist nun durch einen mit versteckter Kamera aufgenommenen Beitrag des Bayerischen Rundfunks alarmiert. Auf dem Film ist angeblich zu sehen, wie sich eine Zehnjährige in Eger für 200 Mark einem deutschen Sex-Touristen anbietet. Die Aufnahmen sind nach Angaben von Behördensprecher Vaclav Vrba die bisher einzigen verwertbaren Anhaltspunkte für den sexuellen Mißbrauch von Kindern in Eger. Bisher habe es dafür keine Anzeichen gegeben. Es habe auch in keinem einzigen Fall eine Anzeige geben, versichert Vrba. Die Berichte deutscher Zeitungen über den Kinderstrich bezeichnete er als "überzogen". Wenn es in seiner Stadt Kinderprostitution gebe, "dann im gleichen Umfang wie in anderen europäischen Städten", betont Petr Jaks, Bürgermeister von Eger. Es sei falsch, von einer Massenerscheinung zu sprechen. Und auch die Reichenberger Streetworker stellen seltsam leidenschaftslos dazu fest: "Kindermißbrauch - bzw. Kinderprostitution – ist eine traurige Tatsache in jedem Staat und wird überall bestraft."

Berichte, nach denen sich "täglich 6.000 Kinder in Eger zum Sex anbieten", seien schon deswegen unsinnig, teilt der westböhmische Polizeichef Jiri Soukup mit, weil es in der ganzen Stadt nur 2.500 Kinder gibt. Wer das nord- bzw. westböhmische Grenzgebiet als "Paradies für Pädophile" bezeichne, übertreibe, heißt es aus Prag.

Frauen aus Osteuropa werden zur Prostitution gezwungen

Dabei hatte es bereits vor drei Jahren einen Prozeß vor dem Berliner Landgericht gegeben. Angeklagt waren ein Dachdecker aus Zossen, ein Maurer aus Rangsdorf und eine tschechische Weberin wegen Menschenhandels, Freiheitsberaubung und Körperverletzung. Sie sollten zwei junge Tschechinnen in Dresden und Berlin zur Prostitution gezwungen haben. Das eine der Mädchen war erst 14 Jahre und war in ihrer Heimat von einem dortigen Zuhälterehepaar zunächst für einen Monat als Liebesmädchen nach Deutschland verkauft worden. Hier wurden sie von den Angeklagten mit einer Reitgerte, eines der Mädchen sogar mit Elektroschocks gefoltert. Im vergangenen Jahr wurde ein arbeitsloser Sachse wegen 19-fachen Mißbrauch von Kindern in Tschechien und der Verbreitung von Pornographie vom Landgericht Dresden zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.

Das seien kein Ausnahmefälle, versichert Gabriele Paul, Leiterin der vom Raphaels-Werk Zittau getragenen Kontakt- und Beratungsstelle für Migrantinnen aus Mittel- und Osteuropa (Kobra). Die Frauen würden geschlagen, ausgeraubt und mit dem Messer bedroht. Bei einer Befragung von 160 Prostituierten im Grenzgebiet von Tschechien und Polen zu Deutschland habe jede zweite angegeben, das Freier gewalttätig geworden seien. Jede fünfte erklärte, auch Polizisten hätten schon körperliche Gewalt angewandt. Das erklärt vielleicht, warum die den tschechischen Kommunen unterstellte "schwarze Polizei" kein Interesse hat, mit den Streetworkern zusammenzuarbeiten, wie Lenka Erbenova vom Streetworker-Projekt Magdalenium Liberec beklagt.

Das böhmische Grenzgebiet ist nicht nur ein bevorzugtes Ziel von deutschen Freiern, sondern auch eine wichtige Station des Frauenhandels. Erst Ende März war der böhmischen Polizei ein bedeutsamer Schlag gegen eine internationale Bande gelungen, die osteuropäische Frauen in tschechische Nachtbars und Massagesalons gezwungen hat. Mindestens hundert Frauen sollen nach den bisherigen Ermittlungen von der Bande mit falschen Versprechungen in erotische Klubs gelockt worden sein. Die Opfer wurden mit der Aussicht auf einen Arbeitsplatz als Näherin oder Verkäuferin angeworben. Dann sei ihnen der Paß weggenommen worden und sie seien für jeweils tausend Mark an Klubs verkauft worden, erzählt Sona Jindrakova, Sprecherin der Untersuchungsbehörde.

Speziell der Warnsdorfer Straßenstrich hat sich zu einer Hochburg des Rotlichtmilieus entwickelt. Nach Schätzungen von Lenka Erbenova gehen hier rund 350 Frauen dem ältesten Gewerbe der Welt nach. Während der Straßenstrich vor allem von Tschechinnen bevölkert ist, bieten in den zahlreichen Nachtklubs Frauen aus der Ukraine, Weißrußland, Rumänien, Bulgarien und Ungarn ihre Dienste an. Die meisten halten sich illegal in der Tschechei auf. "Die Frauen besitzen weder Visa noch Dokumente, erzählt Streetworkerin Erbenova. Der überwiegende Teil der im Grenzgebiet zu Deutschland arbeitenden Prostituierten sei aus der Europäischen Union ausgewiesen worden. Für andere ist das Grenzland ’Teststation‘. Sie müssen hier beweisen, ob sie für den Westen "taugen". Zwei bis drei Monate habe der Interessent Zeit für einen Test, erzählt Uta Ludwig von der Beratungsstelle "Arachne" Frankfurt/Oder ein "Leasing-System", was seit einigem Zeit aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet bekannt ist, und das nun auch in Nordböhmen angewandt wird. Werfen die Frauen genügend Gewinn ab, würden sie nach Deutschland, Holland oder Dänemark weiterverkauft, beschreibt Frau Ludwig diese Form modernen Sklavenhandels. Die Ablösungssumme liege bei mindestens 3.000 Mark. Insgesamt 7.000 Frauen aus Ost- und Südosteuropa werden nach Schätzungen der Stiftung "La Strada" jährlich in den Westen verkauft und zur Prostitution gezwungen.

Prostitution sei das große Geschäft, betont auch der Görlitzer BGS-Ermittler Heiko Romsdorf. Bis zu 360.000 Mark erwirtschaftet eine Prostituierte im Jahr. Allerdings sieht sie von diesem Geld nur einen Bruchteil. Das wirkliche Geschäft machen die Zuhälter. Auch aufgrund des noch immer fehlenden Rechtshilfeabkommens zwischen Deutschland und Tschechien bleibt das Grenzgebiet eine Spielwiese für die organisierte Kriminalität.

Längst hat sich im böhmischen Grenzgebiet ein arbeitsteiliges kriminelles Geflecht gebildet, in dem russische, tschechische und deutsche Kriminelle um die Vorherrschaft kämpfen. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren die Prostituierten-Szene verändert. Waren am Anfang vor allem Frauen anzutreffen, die im Verkauf ihres Körpers eine Möglichkeit sahen, schnell viel Geld zu verdienen, existiere heute eine multinationale Szene, erzählt eine tschechische Streetworkerin. Frauen aus der tschechischen und slowakischen Roma-Bevölkerung machen die Mehrheit der Huren aus.

Halbherzig und vor allem vergeblich versuchten die offiziellen tschechischen Behörden das Rotlichtmilieu zurückzudrängen. Kommunale Sanktionen blieben in den vergangenen Jahren ergebnislos, da sie nicht durch Gesetze gedeckt waren. "Wir können die Frauen aufgreifen und ihre Personalien feststellen, müssen sie dann aber wieder laufen lassen", beschreibt Vaclav Havlicek, Verwaltungsdirektor von Eger, die aussichtslose Situation. Prostitution stelle in Tschechien keinen Straftatbestand dar. Deswegen zielt die Stadt seit diesem Jahr mit einer Verordnung auf die deutschen Freier. Danach ist nicht nur das Anbieten sexueller Dienste an öffentlichen Plätzen untersagt, sondern auch das "Aufsuchen und Nutzen". Das Bußgeld kann bis zu 1.600 Mark betragen. Allerdings dürfte es schwierig sein, den Tatbestand nachzuweisen. "Die Männer behaupten nur nach dem Weg gefragt zu haben", weiß Havlicek. Fotos oder Videoaufnahmen seien für tschechische Gerichte keine Beweise. Diese leidvolle Erfahrung hat die Stadt Eichwald schon vor drei Jahren machen müssen, als sie ihre "Stadtbekanntmachung" verabschiedet hatte. Wenigstens zeitweise gelang es durch verschärfte Polizeikontrolle die Straßenprostitution zurückzudrängen. Viele Asphaltschwalben zogen sich in entsprechende Etablissements zurück.

Überdies betrachten viele tschechische Politiker die Prostitution im Grenzgebiet als ein Problem, das sie kaum etwas angeht. Schließlich seien die meisten Frauen keine tschechischen Staatsbürgerinnen und die Freier deutsche Sextouristen.

Niemand müsse sich eigentlich über mangelnde Zusammenarbeit in der Grenzregion zwischen Sachsen und Tschechien beschweren, zeigt sich die PDS-Abgeordnete Cornelia Ernst sarkastisch. Was da ablaufe, sei "beinahe schon eine soziale Form der Marktwirtschaft". Alle hätten irgendwie Teil am Sex-Geschäft: Die Zuhälter verdienten astronomische Summen, die Kneipenbesitzer würden gute Geschäfte machen, wenn "die netten deutschen Freier sich nach dem Kinderfick echte böhmische Knedli und Gulasch schmecken lassen". Die Tankstellenbesitzer hätten im Angebot nicht nur billiges Benzin, sondern würden auch Mädchen preisgünstig verhökern. Nach Erkenntnissen der PDS-Abgeordneten verkaufen Beschäftigte in Kinderheimen für einen guten Preis Kinder von Prostituierten an deren Zuhälter. Die Zuhälter würden sich aus Kinderheimen sehr junge Mädchen besorgen und diese auf den Strich zwingen, bestätigt Streetworkerin Lenka Erbenova. Überdies sei die Polizei bestechlich und drücke die Augen zu.

Bereits seit zwei Jahren drängt der Freistaat Sachsen auf die Verfolgung deutscher Staatsangehöriger, die in Polen und Tschechien an Sexualstraftaten beteiligt sind. Mit Sorge hatten Gesundheitsexperten des Dresdner Sozialministeriums ein "augenscheinliches Anwachsen der Kinderprostitution" im Landkreis Eger gegenüber der bayerischen Stadt Schirnding beobachtet. Sachsens Sozialminister Hans Geisler (CDU) forderte die bayerische Staats- wie die Bundesregierung auf, den Sextourismus gemeinsam zu bekämpfen. Speziell die Verträge über eine unmittelbare Kooperation zwischen deutschen und tschechischen Strafverfolgungsbehörden müßten schnellstens verabschiedet werden, um Polizei und Staatsanwaltschaft die nötige Rechtssicherheit für grenzüberschreitende Ermittlungen zu geben. Bei dieser Forderung ist es bisher geblieben.

Erst der Bericht über die "Horrorregion Egrensis" hat jetzt die Schröder-Regierung auf die Schande vor der eigenen Haustür aufmerksam gemacht. Als "bisher nicht zufriedenstellend" schätzte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) Ende Juni den gemeinsamen Kampf beider Länder gegen die Kinderprostitution ein. Gegenüber einem Hamburger Nachrichtenmagazin kündigte er die Unterstützung eines Aufklärungsprojektes an, an dem sich auch Bayern, Sachsen und Nichtregierungsorganisationen beteiligen.

Aber aufgeklärt, zumindest auf dem Gebiet des Gesundheitsschutzes, wird bereits seit Jahren. Das sächsische Sozialministerium hat seit 1991 rund 1,3 Milliarden Mark in den Ausbau von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen in den grenznahen Landkreisen investiert. Von Dezember 1993 bis August 1996 arbeiteten bis zu zwölf Sozialarbeiter im Rahmen des Modellprojektes "Streetwork zur Aids-Prävention im grenznahen Raum" zwischen Görlitz und Adorf. Ziel des Vorhabens war der Schutz vor beim Geschlechtsverkehr übertragbaren Krankheiten und Aids bei Prostituierten und den überwiegend deutschen Freiern. Auf den "moralischen Zeigefinger" wird dabei verzichtet. Die Streetworker sehen sich nicht als verlängerter Arm der Polizei, sondern wollen das Vertrauen von Prostituierten und Zuhältern gewinnen, um ihnen grundlegende Vorsichtsmaßnahmen näherzubringen.

Im Sommer vergangenen Jahres schrillten auch im Landratsamt Zittau die Alarmglocken. Im nahe gelegenen Warnsdorf hatte die tschechische Gesundheitsbehörde eine Prostituierte aufgegriffen, die HIV infiziert war. Seitdem warnen Plakate an den Grenzübergängen vor ungeschütztem Geschlechtsverkehr. Mitunter steht auch der Görlitzer Amtsarzt Bernhard Wachtarz persönlich am Übergang "Friedensstraße" in Zittau und verteilt zusammen mit tschechischen Streetworkern und polnischen Hygienemitarbeitern Informationsmaterial und Kondome. Offen redet Wachtarz mit den im Grenzstau Stehenden über Sex, Prostitution, Homosexualität und Alkohol. Der Amtsarzt weiß, was viele Männer über die Grenze zieht: "Der Sex ist dort billiger."


 
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