© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/00 18. August 2000

 
Für einen neuen Patriotismus
Wege aus der deutschen Neurose
Dieter Stein

Deutschland, wie es in der veröffentlichten Meinung und seiner politischen Klasse dargestellt wird, erinnert an einen neurotischen Patienten. Obwohl er sich des Lebens freuen könnte, sitzt der Patient schmollend in der Ecke und bockt herum. Immer wieder fühlt er sich von Pessimismus und Traurigkeit befallen. Obendrein plagen ihn Schuldgefühle für in der Vergangenheit begangene Fehler. Zunehmend geht dieser Patient seiner Umgebung auf den Wecker. Man kann sein Gejammer nicht mehr hören. Immer wieder beteuert er seine Niederträchtigkeit, seine Nichtswürdigkeit. Passiert ihm ein Mißgeschick, fällt er in Selbstanklagen selbst dann, wenn es keinem weiter aufgefallen wäre. Schlägt sich an die Brust und ruft: "Ich bin nicht würdig zu leben!"

Seelenärzte wissen, wie schwer es ist, einen solchen Patienten an die Realität heranzuführen. Vor allem haben sie mit einem Effekt zu tun, den man auch "Krankheitsgewinn" nennt. Ein solcher neurotischer Patient profitiert "unfreiwillig" von seiner Depressivität, von seiner eingebildeten oder tatsächlichen Krankheit. Mal ist es eine Schuppenflechte, mal hämmernde Migräne oder einfach Platzangst. Mit seiner Krankheit hat der Patient ein Thema, das ihn lebenslang beschäftigt. Und mit dem er sich in der Familie und im Bekanntenkreis in den Mittelpunkt drängen kann. Zwar sagt der arme Mensch, er fühle sich furchtbar, im Grunde aber hat er seinen Platz gefunden, an dem er auf seine Weise zurande kommt.

Dieser Neurotiker leidet aber auch immer wieder darunter, daß er sich eigentlich ganz besonders begabt und zu Höherem geboren fühlt. Riesenerwartungen sind mit Handlungsblockaden verbunden – statt tätig zu sein, flüchtet man vor den Herausforderungen in depressive Selbstverleugnung und Suizid-Phantasien. So auch dieser Patient namens Deutschland. In Wirklichkeit in prächtiger Konstitution, strotzend vor Kraft, wälzt er sich masochistisch im Dreck und erhebt immer wieder neue Anklagen und Vorwürfe gegen sich selbst.

So sind wachsende Ethnisierung der dritten Ausländergeneration, insbesondere der Türken, die einen Teufel tun, Deutsche werden zu wollen (wer will sich schon zu diesen Waschlappen zählen lassen, die sich nicht zu ihrer Nation bekennen), und sich anachronistisch schwarz-weiß-rot kostümierende Rockerbanden zwei Seiten ein und derselben Medaille: Eines mickrigen deutschen Nationalbewußtseins, das weder die eigene Jugend noch hier lebende Ausländer sonderlich zu Integration animieren kann.

Die Unfähigkeit der Berliner Parteien, sich auf eine schwungvolle Feier zum zehnten Jahrestag der deutschen Einheit zu einigen und diesen fröhlich, festlich, mit Pomp und knallenden Sektkorken zu begehen, zeigt, daß dies politisch gesehen kein gastliches Land ist – weder für die Deutschen noch für die hier lebenden Ausländer. Die Antwort auf Fremdenfeindlichkeit kann nur ein mitreißendes, einladendes, menschenfreundliches Nationalbewußtsein sein und nicht Trauerflor und Lichterketten.


 
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