© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/00 18. August 2000

 
Pankraz,
Odo Marquard und die Prinzessin auf der Erbse

Gilt das physikalische Gesetz von der Erhaltung der Energie auch für den geistigen Diskurs einer Epoche? Werden die Diskurse von geistigen Grundkomponenten bestimmt, deren Verhältnis zueinander sich nie ändert, was auch immer verhandelt wird, wie auch immer das "Ergebnis" des jeweiligen Diskurses aussehen mag?

Odo Marquard legt solchen Verdacht nahe. In seinem neuen Buch "Philosophie des Stattdessen" (bei Reclam, Stuttgart/Leipzig), wo er die von ihm vertretene "Theorie der Kompensation" weiter ausbaut, formuliert er einige einschlägige "Erhaltungssätze", von denen jeder einzelne (und alle zusammen noch einmal) ein ganz neuartiges Licht auf den geistigen Diskurs der Moderne werfen, und zwar ein negatives.

Der Mensch, sagt Marquard im Anschluß an Arnold Gehlen, ist im Vergleich zur übrigen belebten Natur ein von treffgenauen Instinkten weitgehend freigesetztes "Mängelwesen", ein habitueller Taugenichts, der aber seine Fehler erfolgreich zu kompensieren versteht. Doch zur Mechanik dieser Kompensation gehöre am Ende auch die Kompensation des Erfolgs selbst, wodurch verhindert werde, daß der Diskurs je zu einem "totalen" Ziel führt, und die Sache immer irgendwie weitergehen kann.

Vier Erhaltungssätze zur Sicherung des prinzipiellen Nichterfolgs (oder Halberfolgs) nennt der notorische Diskurs-Skeptiker: Erstens den Satz von der Erhaltung der Konfusion, zweitens den Satz von der Erhaltung des Empörungspotentials, drittens den Satz von der Erhaltung der Naivität und viertens den Satz von der Erhaltung des Negativitätsbedarfs. Der vierte Satz ist in der psychologischen Hierarchie gewissermaßen der erste, von ihm hängen die anderen ab.

Am "objektivsten" geht es beim Satz von der Erhaltung der Konfusion zu. Eine Einigung im Diskurs ist ja die Herstellung von Ordnung, und schon Aristoteles hat die Ordnung als Beraubung, als "steresis", beschrieben. Irgend jemand fühlt sich durch die Herstellung von Ordnung immer beraubt, und er macht deshalb dagegen Stunk, sorgt für ein Minimum an Unordnung, steht gegen die Ordnung auf, "empört" sich gegen sie.

Das führt dann zum Satz von der Erhaltung des moralischen Empörungspotentials. Je mehr Gewissen man "ist", schreibt Marquard, um so weniger Gewissen braucht man zu "haben". Man erspart sich das Tribunal, indem man es wird. In permissiven Gesellschaften etwa wird die Permissivität proportional durch den Rigorismus der Verteidiger der Permissivität ergänzt, der genauso illiberal ist, wie die Permissivitätsregeln liberal sein mögen. Unterm Strich bleibt, wie überall, ein Nullsummenspiel. "Es gibt einen Entmoralisierungseffekt der Hypermoralisierung und umgekehrt einen Rigorismuseffekt der Libertinage".

Ähnlich steht es beim Satz von der Erhaltung der Naivität. Wenn einer zu sich sagt: "Mir kann das nicht passieren, ich bin ja so reflektiert", so beweist er damit nur seine besondere Anfälligkeit für Naivitätsfallen. Denn das, was einem passiert, kommt immer durch die unreflektierte Hintertür, und je entschiedener einer in die eine Richtung reflektiert, um so mehr droht ihm aus der anderen Richtung der völlig unreflektierte, der helle Wahnsinn. Treffende Beispiele aus der jüngsten Politikgeschichte gibt es im Dutzend billiger.

Was aber den Satz von der Erhaltung des Negativitätsbedarfs betrifft, so bündelt er, wie gesagt, die heimtückischen Kompensationen des an sich so willkommenen Kompensationserfolgs zu einem wahren Brennesselstrauß. Er ist geradezu die Quintessenz eines modernen Diskurses, verleiht ihm Struktur und Antriebskraft. Sollte eine Strecke von Übeln wirklich einmal weitgehend ausgeschaltet sein, so stürzt sich die Runde, die darüber diskutiert, mit um so wütenderer Energie auf den verbliebenen Übelrest und bläst ihn zum Weltübel auf. Die Negierungsmenge bleibt konstant.

Eine hektische Suche nach den "Nebenfolgen" der erfolgten Übelbeseitigung beginnt. "Knapper werdende Güter werden immer kostbarer, knapper werdende Übel werden negativ kostbarer. Sie werden immer plagender, und Restübel werden schier unerträglich. Deshalb ängstigen heute weniger die Risiken als vielmehr die Restrisiken".

Marquard nennt das
auch das "Prinzessin-
auf-der-Erbse-Prinzip". Weil jene Prinzessin im Märchen, gut behütet und um-schmeichelt, wie sie war, so wenig zu leiden hatte, litt sie unter der Erbse, die unter den dicken Matratzen ihres Bettes lag und nun merkbar zu drücken begann. Das war keine Frage ihres zarten Hinterteils, sondern eine Frage ihres zarten Negativitätsbedarfs.

Soweit also die Fortschreibung der Marquardschen Kompensations-Philosophie. Wie bei diesem Meister der Essayistik, dem "Montaigne von der Ostsee", nicht anders zu erwarten, liest sich auch sein neues Werk blendend, amüsiert und stiftet Nachdenklichkeit. Trotzdem hat man immer öfter das Gefühl, als würden da Schlachten von gestern geschlagen, als ginge es gegen eine diskursive Hyperkritik, die so gar nicht mehr existiert, obwohl die Teilnehmer des Diskurses, die "Herren der Talkshows", genau dieselben geblieben sind.

Das macht: Ihr Quantum an Konfusion, Empörungspotential und Naivität mag unverändert das gleiche sein wie noch vor kurzem im zwanzigsten Jahrhundert, aber ihr Negativitätsbedarf ist nachweisbar nicht mehr der gleiche. Sie sind via Berliner Republik bei sich selber angekommen.

So sind sie keine Kritiker mehr, geschweige denn Hyperkritiker, sondern Affirmations-Equilibristen von der trübseligsten Sorte, bei denen nicht einmal mehr der Hintern etwas spürt. Das einzige, was sie noch können, ist, den längst fälligen Negationsbedarf zu leugnen, ihn zu kriminalisieren und von den Kanälen fernzuhalten. Höchste Zeit, daß dieses Übel kompensiert wird, lieber heute als morgen.


 
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