© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/00 18. August 2000

 
Der Menschenfeind als Erlöser
Michel Houellebecqs Roman "Elementarteilchen"
Oliver Geldszus

Das Buch ist ein Skandal, und es ist auch so gemeint. Nüchtern, mit bestechendem Blick hat der neue französische Starautor Michel Houellebecq in seinem jüngsten Roman "Elementarteilchen" das Erbe der 68er und der Moderne überhaupt ins Visier gerückt. Der Befund ist eindeutig: die einstigen Propagandisten einer neuen, besseren Welt haben versagt, eben weil ihr Konzept von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Houellebecq bezieht mit Schopenhauer und Nietzsche eine klar aufklärungskritische Position; er mißtraut dem Intellekt und geht vom Primat der genetischen Voraussetzungen des Menschen aus.

Bei der Abrechnung mit der schönen neuen Welt rückt Houellebecq in den "Elementarteilchen" (DuMont Buchverlag, Köln) so zielsicher wie der Popularität förderlich die "sexuelle Befreiung" in den Mittelpunkt. Seine eindeutige, sich apodiktisch durch den Roman ziehende Analyse: die sexuelle Revolution der 68er hat keineswegs für entspannte gesellschaftliche Verhältnisse gesorgt. Ganz im Gegenteil sind für ihn Frust und Gewaltbereitschaft nur gestiegen. Denn wie von Marquis de Sade bereits vorgezeichnet, sucht der Mensch bei nahezu grenzenloser Freiheit immer weiter nach neuen Stimulanzien und Perversionen – der Mensch ist von Natur aus böse, da ist sich Houellebecq mit Kirchenvater Augustinus ganz einig.

Im Roman sieht das dann so aus: Houellebecq porträtiert zwei Halbbrüder, die die unterschiedlichen Facetten des Single-Daseins in der Moderne repräsentieren. Der ältere, Bruno, wird zum Erotomanen, wenngleich einem erfolglosen. Denn das ist die schonungslose Theorie von Houellebecq: Liebe und Sitten können noch so frei sein, die sexuelle Befriedigung bleibt doch nur wenigen vorbehalten: "Ohne Schönheit ist ein junges Mädchen unglücklich, denn es hat keine Chance, geliebt zu werden." Bruno ist feist und bleich – er gehört von vornherein zu den Verlierern des Lebens. "Der Sommer ’76 war vermutlich die schlimmste Zeit in Brunos Leben. Es herrschte eine Gluthitze. Die Mädchen trugen kurze, durchsichtige Kleider, die ihnen am schweißnassen Körper klebten. Er lief ganze Tage mit vor Begierde geweiteten Augen durch die Stadt. Mehrere Male versuchte er, Mädchen auf der Straße anzusprechen, er erhielt zur Antwort nur Erniedrigungen."

Schließlich wird Bruno noch zum Ehemann und Familienvater – aber glücklich wird er nicht. Anders sein Halbbruder Michel: er hat aus dem elenden Treiben auf Erden den Schluß gezogen, zu entsagen. Anstatt wie Bruno am Leben zu scheitern, versucht er, die Ergebisse der letzten zwanzig Jahre zu ergründen: "Konnte man Bruno als Individuum betrachten?" denkt er etwa in einer glänzend gelungenen Situation im Roman, als sein Bruder lamoryant seinen Rotweinvorrat leertrinkt. "Das Verfaulen seiner Organe betraf nur ihn selbst, er würde den körperlichen Verfall und den Tod als individuelle Erfahrung erleben. Seine hedonistische Lebenseinstellung und die Kräftefelder seines Bewußtseins waren dagegen seiner ganzen Generation zu eigen. Ebenso wie man einem atomaren System ein bestimmtes Verhalten – Teilchen- oder Wellenbewegung – zuweisen kann, so konnte auch Bruno als Individuum angesehen werden, aber auf der anderen Seite war er nur ein passives Element der Entfaltung einer historischen Bewegung."

In dem verschrobenen Biologen Michel hat sich Houellebecq nicht zuletzt selbst karikiert: ein einsamer Analytiker des irdischen Daseins. "Ich kann die Welt nicht ändern – also beschreibe ich sie", so die Maxime des Autors. Mit der Demaskierung Brunos durch seinen Halbbruder zielt Houellebecq auf die Entlarvung einer ganzen Generation – eben seiner eigenen. Eine Geschichte voller Tragik und unfreiwilliger Komik – die Geschichte, so will es der Autor, des modernen Menschen. Es sind Nietzsches "letzte Menschen", die als einsame Monaden im Roman herumstolpern und an der Suche nach dem Glück zugrunde gehen.

Keine Frage: mit den "Elementarteilchen" hat Houellebecq einen wichtigen Nerv der Zeit getroffen. Das Buch, von der FAZ zum "epochalen Roman" hochgejubelt, ist bereits in zwanzig Sprachen übersetzt worden. War Houellebecq mit seinem Erstling "Ausweitung der Kampfzone" zu einem Geheimtip unter französischen und deutschen Intellektuellen geworden, so hat er mit den "Elementarteilchen" den Durchbruch geschafft. Bereits in seinem Erstlingswerk hatte er sich dem "Elementarteilchen"-Thema gewidmet – wenngleich sprachlich zuweilen noch etwas ungelenk. Der schonungslose Blick auf das Leben allerdings war auch hier bereits von eindringlicher Schärfe.

Der Autor selbst macht einen denkbar unscheinbaren Eindruck. Das Haar schütter, die Augen vom ständigen Rauchen gerötet und zusammengekniffen. Zu einem Pressetermin seines Pariser Verlages Flammarion erschien er im vergangenen Herbst in fleckigen braunen Cordhosen und abgeschabten Halbschuhen. Er wirkt scheu und linkisch, sein Reichtum und Erfolg machen ihn eher noch unsicherer. Aber er genießt es, endlich etwas zu sagen zu haben, gehört zu werden. So stößt er gern seine Sätze aus, die von Schopenhauer stammen könnten: "An Glück oder Zufriedenheit zu denken, habe ich mir abgewöhnt" oder "Der Tod wäre eine Art von Befreiung, aber mir fehlt der Mut zum Selbstmord". Vereinzelt wird er von seinen leidenden Lebensgenossen, deren Elend er in so schonungsloser Manier aufs Papier zu bringen versteht, als ein Erlöser angesehen. Sie berühren ihn wie einen Heiligen, wenn er die Metro in seinem Pariser Vorort aufsucht.

Seine Umgebung hat Houellebecq nachhaltig geschockt. Zwar galt Gesellschaftskritik unter Intellektuellen schon immer als besonders schick und geistreich. Houellebecq aber hat die Szene mit seiner Entlarvung der Jämmerlichkeit des modernen Menschen und mit seinem unverhüllten Haß auf die 68er verstört, denen er vorwirft, mit ihrer naiven "Befreiung des Menschen" lediglich dessen Entfesselung zum lustorientierten Raubtier betrieben zu haben. Fallen die Schranken der Gesellschaft, so weiß Houellebecq, tritt die Grausamkeit des Menschen zutage. Derartige Tabubrüche sind bekanntlich nicht gern gesehen. In Frankreich lösten seine "Elementarteilchen" die angeblich "größte Literaturdebatte seit dem Krieg" aus, in den Feuilletons und öffentlichen Diskussionen wurde er nicht selten als "Faschist" und "Frauenfeind" beschimpft. Lehrer warnten ihre Schüler zuweilen vor den Schriften des wundersamen Einsiedlers.

In Deutschland wurden die "Elementarteilchen" zwiespältig begrüßt. Houellebecq fügt sich hervorragend in die hierzulande gerade aktuelle Diskussion um Nietzsches philosophisches Erbe und die von Slooterdijk im vergangenen Herbst inszenierte "Menschenpark"-Debatte ein. Denn Houellebecq leistet sich am Ende seines Romans den Blick in die Zukunft und läßt seinen Protagonisten Michel den genetischen Code entschlüsseln, der die künstliche Reproduktion des Menschen erlaubt. In Anlehnung an Nietzsche will er den Menschen überwinden, von dessen ewigem Elend auf Erden er überzeugt ist. Dennoch ist der Roman, so jedenfalls der letzte Satz, "dem Menschen gewidmet". Das ist nicht einmal Ironie, denn wie alle großen Menschenfeinde ist Michel Houellebecq im Grunde seines Herzens ein wahrer Humanist.


 
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