© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/00 18. August 2000

 
Ursprünge des Ideologiestaates
Entstehung und Praxis des bundesdeutschen Radikalenerlasses
Arne Schrader

Wer zu Haß und Gewalt aufrufe, habe in öffentlichen Verwaltungen nichts zu suchen, so die CDU-Vorsitzende Angela Merkel am Mittwoch vergangener Woche in Berlin. Gegen Rechtsextremisten sei der Einsatz aller arbeitsrechtlichen Mittel anzustreben. Der Gedanke des Ausschlusses bestimmter Personenkreise aus dem öffentlichen Dienst ist aber im Grunde genommen nichts Neues, jedoch hört er sich aus dem Munde von Angela Merkel so spitz und forsch an, daß man meinen könnte, es wäre sofort Ruhe im Lande, führte man nur diese Radikalkur durch.

Erinnern wir uns: Die zunehmende Zahl vor allem von Studenten, die bereit waren, gewalttätige und sogar terroristische Mittel im politischen "Kampf" einzusetzen, bewog die Politiker der etablierten Parteien gegen Ende der sechziger Jahre, über Möglichkeiten zu beraten, wie den Radikalen beizukommen sei. Denn schließlich beabsichtigten diese bei ihrem "Marsch durch die Institutionen", Schlüsselpositionen in Wirtschaft, öffentlichem Dienst und Verwaltung und vor allem in der Justiz zu besetzen, um dann die Gesellschaft von innen heraus zu verändern.

Am 28. Januar des Jahres 1972 fanden die Beratungen der verschiedenen Ministerpräsidenten aus allen elf Bundesländern unter der Beteiligung der Bundesregierung in der Verabschiedung des "Radikalenerlasses" ihren Abschluß. Merkmal des Radikalenerlasses war hauptsächlich die Regelanfrage, die bei allen Bewerbern für den öffentlichen Dienst eine Überprüfung der Verfassungstreue bei den dafür zuständigen Stellen, den Landesämtern für Verfassungsschutz, vorsah.

Der Politikwissenschaftler Gerard Braunthal, der bis 1988 an der Universität von Massachusetts lehrte, hat 1993 in einer grundlegenden Studie ("Politische Loyalität und öffentlicher Dienst. Der ´Radikalenerlaß´ von 1972 und die Folgen") die Motive der Regierenden aufgelistet: die eigenartige politische Exponiertheit des Staates, die bemerkenswerte deutsche Empfindlichkeit in Fragen der politischen Demokratie, die antikommunistische Ideologie, die Erhaltung des neokapitalistischen Systems und die Furcht vor einer Unterminierung der BRD durch die DDR.

Dabei verfolgten die verschiedenen Parteien durchaus divergierende Ziele: Wollte die CDU primär die Verbreitung des Kommunismus behindern (seit kurzer Zeit gab es wieder eine kommunistische Partei, die DKP), so war die SPD im wesentlichen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung interessiert. Manche Kritiker dieser Politik gingen soweit zu sagen, die Sozialdemokraten befürworteten den Erlaß, um, im Sinne eines politischen Kuhhandels, womöglich die CDU-Front gegen die sozialliberale Ostpolitik ins Wanken bringen zu können. Heute kaum nachvollziehbar, gab es sogar präventive Erwägungen mit Blick auf die Vertriebenen, deren die innere Sicherheit gefährdende Radikalisierung im Zuge des geplanten, faktisch endgültigen Verzichts auf die Ostgebiete befürchtet wurde.

Die Umsetzung des Radikalenerlasses gestaltete sich äußerst aufwendig. So wurden zum Beispiel von August 1972 bis März 1976 fast 500.000 Regelanfragen über Bewerber des öffentlichen Dienstes gestellt, wogegen erstaunlicherweise die in keinem Verhältnis zum betriebenen Aufwand stehende Zahl von nur 428 als "nicht einzustellen" beschieden wurde. Die überwiegende Zahl der abgelehnten Bewerber gehörte dem linken Spektrum an und unter ihnen gab es überproportional viele Lehramtsanwärter.

Grundvoraussetzung für das Überprüfungsverfahren war das Vorhandensein von Verfassungsschutzkarteien, in denen potentiell über jeden Bürger Informationen gespeichert wurden. Kriterium für die Karteierfassung war nicht etwa strafbares oder strafverdächtiges Handeln, sondern jegliche Art von auffälligem politischen Verhalten. Alle Aktivitäten, die im Rahmen der außerparlamentarischen Opposition während der sechziger Jahre entfaltet worden sind, wurden mit akribischer Sorgfalt in die VS-Akten eingespeichert. Gleiches gilt für große Teile der Anti-AKW- und der sogenannten Friedensbewegung, welche die Aktivitäten am linken und rechten Rand quantitativ kaum noch ins Gewicht fallen ließen. Alle diese Regungen finden sich in den VS-Akten registriert, "karteimäßig ausgemünzt in 100.000en von personenbezogenen Daten". Der ehemalige niedersächsische Minister für Wissenschaft und Bildung, Joist Grolle (SPD) meinte, daß allein diese Tatsache das Urteil rechtfertige, der Verfassungsschutz sei zu einem Instrument der Verfassungsbedrohung mutiert.

Grolle führte zutreffend aus, daß Rechtsprechung und juristische Kommentierung erst im Zusammenhang mit der politischen Polarisierung nach 1968 das ohnehin westeuropäisch singuläre Konzept der "streitbaren Demokratie" von ihrer in Artikel 18 und 21 Grundgesetz formulierten instrumentellen Anbindung (Verwirkung der Grundrechte bzw. Parteienverbot als Sanktion gegen aktive Verfassungsfeinde) gelöst und zu einem allgemeinen Verfassungsprinzip erhoben wurde. Dies war zweifellos ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum heute dominanten Ideologiestaat, der augenblicklich auf Karteien und Regelanfragen verzichten kann. Mit Grolle kann man darum wieder fragen: "Wer wollte behaupten, westliche Demokratien seien gefeit gegen die Gefahr administrativ bewirkter Auszehrung der Freiheit?"

Die Praktizierung des Radikalenerlasses zog bald massive Proteste, vor allem von seiten der linken Studentenschaft nach sich. Die sich damals zwischen den Anti-AKW-Feldzügen und den Anti-Nachrüstungs-Wallfahrten langsam profilierende Protestkultur hatte nach 1968 endlich wieder die Möglichkeit, breite Massen zu mobilisieren. Schlimmer für die BRD waren die von der inländischen Protestfront provozierten ausländischen Reaktionen.Das geschickt in Szene gesetzte Russell-Tribunal von 1978 schuf eine Bühne, von der aus sich EG und UN erfolgreich agitieren ließen.

Für Gegner des Erlasses, die sich vor allem in der Kritischen Justiz mit fundierten Beiträgen über den "Irrgarten der Radikalenjudikatur" (Thomas Blanke) zu Wort meldeten und die sehr dezidiert von "politischer Gesinnungsjustiz" sprachen, stand außer Frage, daß rechtsstaatliche Grenzen überschritten und Berufsverbote ausgesprochen würden, welche nicht mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen sei. Da auch Mitglieder zugelassener Parteien wie der DKP und der NPD aufgrund des Erlasses mit Schwierigkeiten rechnen mußten, wurde auch hier die massive Einschränkung der im Grundgesetz garantierten Meinungsfreiheit kritisiert. Nicht zuletzt aufgrund der medial organisierten internationalen Kritik kam es deshalb Ende der siebziger Jahre zu einer gewissen Liberalisierung der Überprüfungspraxis. Als Folge der Wende von 1982 wurde diese Handhabung aber zunächst rückgänging gemacht. Die höchstrichterliche Rechtsprechung, insbesondere das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1983, das den Versuch parierte, womöglich die Zulassung zur Anwaltschaft von einer "besonderen Treupflicht" abhängig zu machen, vereitelte jedoch eine Renaissance der "Blütezeit" zwischen 1972 und 1976.

Der Radikalenerlaß entstand in der Zeit des Kalten Krieges, als Linksterroristen massiv finanziell, materiell und ideologisch von den Ostblockstaaten, vor allem der DDR unterstützt wurden. Mit dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus sah sich die extremistische Linke des Westens vor dem Problem, daß niemand mehr etwas von "ihrem" überkommenden Sozialismus wissen wollte. Sie war einfach keine politische Kraft mehr. Nach und nach schafften die Länder die Regelanfragen ab, bis Baden-Württemberg sich 1991 als letztes Bundesland vom Radikalenerlaß getrennt hat. Ob bei Castor oder Chaos-Tagen, ob am 1. Mai oder lange Jahre in der Hamburger Hafenstraße, es schien der politischen Klasse gleichgültig zu sein, ob Radikalen der Zugang zum Staatsdienst eröffnet würde oder nicht.

Im hysterisierten Hier und Heute zirkulieren juristisch zumeist laienhafte Forderungen nach Schnell-Gerichten, wie sie etwa der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Ramsauer, erhebt, während Bundesinnenminister Otto Schily die gegenwärtige Lage wohlweislich nicht mit der den Hochzeiten der RAF verglichen sehen will und signalisiert, daß ihm an einer Rückkehr in die siebziger Jahre nicht gelegen ist. Der ehemalige RAF-Verteidiger dürfte dabei auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 1995 im Auge haben, das auf der Grundlage eines "Altfalles" die Praxis der westdeutschen Berufsverbote für rechtswidrig erklärte. Das ist eine hohe Hürde für jene, die die Praxis politischer Gesinnungsprüfungen revitalisieren wollen.


 
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