© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/00 18. August 2000

 
Der lange Marsch der CDU nach links
von Karlheinz Weissmann

Es ist alles in Ordnung. Helmut Kohl sitzt auf der Hinterbank, die Spendenaffäre scheint fast vergessen, und die neue Spitze der CDU hat auf dem Parteitag im April ein überwältigendes Vertrauensvotum erhalten. Jetzt kann sie sich darauf konzentrieren, wieder "auf Augenhöhe" (Edmund Stoiber) mit der Bundesregierung zu gehen. Selbst die Schwesterpartei CSU hat nach anfänglichem Zögern ihr Plazet gegeben und bekundet nun demonstrativ, daß man sich Angela Merkel als erste Kanzlerin der Bundesrepublik vorstellen könne.

Aber wofür steht die neue Vorsitzende der CDU eigentlich? Angela Merkel hat in mehreren Interviews die politische Orientierung der Union mit den Begriffen "christlich-sozial", "liberal" und "wertkonservativ" umrissen. Bei den beiden ersten Formeln kann man sich ungefähr vorstellen, was gemeint ist – Rekurs auf die katholische Soziallehre und die Forderungen des Arbeitnehmerflügels der Christdemokraten einerseits, Bezugnahme auf die Marktwirtschaft und eine gewisse Laxheit in moralischen Auffassungen andererseits –, aber was bedeutet eigentlich der Terminus "wertkonservativ"? Zuerst fällt auf, daß es nicht möglich ist, die CDU ohne weitere Erläuterung als "konservativ" zu bezeichnen. Das unterscheidet sie schon von der CSU, die in ihrem Programm die oben erwähnte Trias aufweist, aber einfach auf ihre "christlich-sozialen", "liberalen" und "konservativen" Wurzeln Bezug nimmt. Jedem wird deutlich, daß man in der CDU vor solcher Eindeutigkeit zurückschreckt: "wertkonservativ" ist erkennbar eine Schwundform des Konservativen. Der Begriff stammt bezeichnenderweise aus dem Repertoire der alten westdeutschen Linken, der zu Beginn der siebziger Jahre angesichts von Ölkrise und Umweltgefährdung der Fortschrittsoptimismus abhanden gekommen war. In seinem Buch "Ende oder Wende" (1975) hatte der damalige Entwicklungshilfeminister Erhard Eppler die Unterscheidung zwischen dem – guten, also linken – "Wertekonservatismus" und einem – üblen, also rechten – "Strukturkonservatismus" gemacht. "Wertkonservativ" ist es dann, die positiven Bestände der Vergangenheit zu bewahren (die unberührte Landschaft, den Sozialismus in der Stammesgesellschaft), schlecht, den Aufbau tradierter Institutionen (in Elternhaus, Kirche, Schule, Armee) zu verteidigen. Als Eppler mit dieser Unterscheidung an die Öffentlichkeit trat, machte sie Furore, diejenigen, die bis dahin als Konservative apostrophiert worden waren und die Bezeichnung akzeptiert hatten, konnten allerdings den Eindruck nicht loswerden, daß es sich um eine groß angelegte Roßtäuscherei handelte.

Würde man genauer nachfragen, bekäme man von Angela Merkel wahrscheinlich eine Definition des "Wertkonservativen", die dem Epplerschen Modell ziemlich ähnlich wäre. Daß ihr damit die Sympathie der tonangebenden Kreise in der Bundesrepublik sicher ist und ihr niemand in der Union entgegentritt, entspricht dem faktischen Bedeutungsverlust, den der konservative Flügel der CDU erlitten hat. Wenn überhaupt, dann wird nur noch der brandenburgische Parteivorsitzende Jörg Schönbohm als Mitglied des Präsidiums die "Rechte" innerhalb der Union repräsentieren. Der unverkennbare Linksruck, den die Partei schon mit der Nominierung von Angela Merkel vollzogen hat, schließt aber auch eine lange weltanschauliche Entwicklung ab, die im Effekt zur Aufgabe derjenigen Positionen geführt hat, die einmal den Erfolg der Union und ihre Stellung als "Staatspartei" der Bundesrepublik verbürgten.

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Der unverkennbare Linksruck, den die Partei schon mit der Nominierung von Merkel vollzogen hat, schließt eine weltanschau-

liche Entwicklung ab, die zur Aufgabe von Positionen geführt hat, die den Erfolg garantierten.

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Die polemische Formel von der CDU als "Dauerkoalition aus Zentrum und Deutschnationalen" traf immer nur einen Teil der Wirklichkeit. Die Union war von Anfang an etwas Neues, anders als die SPD, die nach 1945 personell und programmatisch an die Zeit der Weimarer Republik anknüpfen konnte und wollte. Grundsätzlich schienen in der ersten Nachkriegszeit mehrere verschiedene Wege möglich, um die bürgerlichen und die konfessionell gebundenen Teile der Bevölkerung in einer Partei zu sammeln. Das Fortwirken der "antikapitalistischen Sehnsucht" hatte jedenfalls nur vorübergehend das Programm eines "christlichen Sozialismus" attraktiv erscheinen lassen. Die geschickte Taktik, mit der Konrad Adenauer anfangs das sehr weit nach links führende "Ahlener Programm" duldete, um dann mit den "Düsseldorfer Leitsätzen" von 1949 in Richtung "Soziale Marktwirtschaft" umzusteuern, war eine entscheidende Grundlage für den Aufstieg der Union in den fünfziger Jahren, für das, was der Parteihistoriker Leo Schwering das "Wunder der CDU" genannt hat.

Die "Christlichdemokratische Union Deutschlands", wie sie seit der Organisation als Bundespartei im Oktober 1950 endgültig hieß, stand im wesentlichen für vier große Ziele: die Wiedereingliederung Deutschlands in die Völkergemeinschaft, nicht zuletzt durch Rückkehr zum "christlichen Sittengesetz" (Paragraph 1 des Statuts der CDU vom 20. Oktober 1950), die "Westbindung" – wirtschaftliche und politische Integration in die entstehende europäische Gemeinschaft, militärische Integration in die NATO –, Souveränität für die Bundesrepublik und Sicherung der parlamentarischen Demokratie durch "Wohlstand für alle". Diese vier Ziele waren gleichzeitig eine Art Minimalkonsens, auf den sich die verschiedenen Hauptträgergruppen der Union einigen konnten: die Reste des Zentrums, die darüber hinaus mit einer gewissen Privilegierung der Kirchen in Verfassung und Gesetzgebung zufrieden gestellt wurden, die katholische Arbeitnehmerschaft, der man in Fragen der Betriebsverfassung entgegenkam, die praktizierenden Protestanten und eng verbunden mit diesen die "Potsdamdeutschen" (Barbro Eberan), die man durch einen deutschlandpolitischen Maximalismus band. Von diesen Gruppen war die letzte die unzuverlässigste, was kaum verwunderlich sein kann, weil der Primat der Westbindung mit der Forderung nach Wiedervereinigung und gar dem Verlangen nach Rückgabe der Ostgebiete schwer zum Ausgleich zu bringen war. Der Konflikt zwischen Adenauer und seinem Innenminister Gustav Heinemann hatte hier seine Wurzel.

Die Bedeutung des Nationalen für Nachkriegsdeutschland wurde im In- wie im Ausland deutlich überschätzt. Man liest heute nur noch mit Verwunderung die Stellungnahmen des britischen oder amerikanischen Geheimdienstes, die angesichts der Politik Adenauers eine nationalistische Revolte, möglicherweise unter Führung der SPD befürchteten. Auch der Versuch Heinemanns und anderer Nationalprotestanten, einen "dritten Weg" zwischen Ost und West einzuschlagen, blieb bezeichnenderweise völlig erfolglos, die von Heinemann 1952 gebildete "Gesamtdeutsche Volkspartei" war bei allen Wahlen chancenlos, die vor allem in Niedersachsen einflußreiche, lutherisch und nationalkonservativ geprägte "Deutsche Partei" blieb immer im Kielwasser der Union und wurde schon 1960 vollständig von der CDU aufgesogen; zaghafte Versuche der FDP, die Leerstelle zu füllen, blieben erfolglos.

Für die größte Gruppe der konservativ geprägten Bevölkerung war die Union trotz oder wegen dieser Entwicklung die einzige Wahlmöglichkeit. Durch die unbestreitbaren Erfolge der von der Union geführten Bundesregierungen, durch die Einbindung des Führungspersonals der Interessenverbände, durch ein regionales und konfessionelles Proporzsystem bei der Besetzung von Ämtern und Gremien sicherte sich schon Adenauer die Loyalität dieser Klientel. Wesentlich unproblematischer war dagegen die Beziehung der Union zu ihrer katholischen Anhängerschaft, relativ unabhängig davon, ob man diese sozial eher dem Bürgertum oder der Arbeiterschaft zuzurechnen hatte. Über drei Jahrzehnte waren Mehrheiten der CDU in geschlossen katholischen Siedlungsräumen ziemlich sicher. Ähnliches ließ sich von den Anhängern eines Wirtschaftsliberalismus nur bedingt sagen. Zwar trat 1963 mit Ludwig Erhard als Nachfolger Adenauers im Kanzleramt ein Mann an die Spitze der Union, der das Wort "Marktwirtschaft" am liebsten ohne jedes Beiwort benutzte, aber er war in der Partei ohne Hausmacht. Anfangs schien Erhard prädestiniert, die Union in die Nachkriegszeit und in das allgemein erwartete postideologische Zeitalter zu führen, aber ausgerechnet im Beraterkreis des neuen Regierungschefs wurden Zweifel laut, ob es möglich sei, einen Staat dauerhaft nur mit den Mitteln des social engineering zu führen. Das auf dem CDU-Parteitag von 1965 proklamierte Modell einer "formierten Gesellschaft" blieb aber eigentümlich blaß, hatte auch keine deutlichen Konturen gegenüber dem an Zulauf gewinnenden Nationalismus, wie ihn die NPD vertrat, oder der großen Emanzipation, wie sie von der Neuen Linken propagiert wurde. Am Ende der sechziger Jahre schien die Union weltanschaulich ausgelaugt. Was Erhard als "neuen Stil", als "Politik der Mitte und Verständigung" angekündigt hatte, griff sowenig wie die vorsichtige Annäherung an modische Formen, etwa die Befragung des Kanzlers durch ein "Jugendforum" auf dem Parteitag oder die Veranstaltung von Podiumsdiskussionen, bei denen man sich – um Fähigkeit zur Selbstkritik zu demonstrieren – ausgerechnet von Walter Jens einen "Lasterkatalog" vorhalten ließ.

Die Große Koalition, zwischen 1966 und 1969, war in jeder Hinsicht eine Phase des Übergangs. Die Union hatte bis zu diesem Zeitpunkt ihre Vorstellungen auf fast allen Gebieten durchsetzen können, und die Opposition war mit ihren Konzepten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit (Neutralität – Planwirtschaft – Sozialismus) ganz offensichtlich gescheitert, hatte sogar Stück für Stück die Programmatik der CDU übernommen. Aber gerade dieser Triumph und der Wandel des Zeitgeistes führten die Christdemokraten jetzt in die weltanschauliche Desorientierung. Man wird zugestehen müssen, daß es dafür auch objektive Gründe gab, die ohne Zutun der CDU in den gesellschaftlichen Entwicklungen begründet lagen, die sie zum Teil zwar unterstützt, aber nicht eigentlich verursacht hatte. Hierzu muß man zählen die zunehmende Säkularisierung, die die kirchliche Bindung vor allem im protestantischen Bevölkerungsteil angriff, allmählich aber auch Wirkungen im katholischen Milieu zeigte, dann die Ausbildung eines westdeutschen Sonderbewußtseins, das sich an allen Fragen, die mit der nationalen Einheit zusammen hingen, immer weniger interessiert zeigte, und schließlich eine Atomisierung der modernen Industriegesellschaft, die dazu führte, daß mit dem wachsenden Wohlstand die Aufrechterhaltung der alten Restriktionen des christlichen Sittengesetzes immer weniger plausibel zu machen waren.

Die Union schwankte erkennbar zwischen der Anpassung an die neuen Tendenzen und einem sich versteifenden Widerstand. In der ersten Zeit ihrer Opposition, nach dem Wahlsieg der sozialliberalen Koalition von 1969, hatte die CDU vor allem auf Landesebene das Gefühl, "überall mitreformieren zu müssen" (Eduard Neumaier), andererseits kann man mit guten Gründen behaupten, daß die CDU die Verteidigerin der "alten Werte" blieb. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich sogar, daß sie ihre Positionen etwa in der Deutschland-, aber auch in Teilen der Gesellschaftspolitik verglichen mit eigenen Aussagen während der sechziger Jahre deutlich verschärfte, sie erschien – verkürzt gesagt – wesentlich "rechter". Aber diese Eindeutigkeit hing mit der besonderen Schärfe der Auseinandersetzungen zu Beginn der siebziger Jahre zusammen und war auf das überschießende Moment jeder Oppositionspolitik zurückzuführen. Ein besonderes Problem war außerdem die Unklarheit im Hinblick auf die innerparteilichen Kräfteverhältnisse, verursacht durch den Dauerkonflikt um die Führung der Union in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Der Abhalfterung Rainer Barzels nach einer glücklosen Zeit als Parteivorsitzender folgte der Aufstieg Helmut Kohls, scheinbar gleich wieder in Frage gestellt durch die Konkurrenz eines so erfolgreichen Landespolitikers wie Ernst Albrecht und vor allem bedrängt durch Franz-Josef Strauß, dessen Rückzug nach Bayern infolge der Spiegel-Affäre niemand im Ernst als Absage an alle Aspirationen auf das Kanzleramt verstehen konnte.

Erst mit der Wahlniederlage der Union 1976 war geklärt, daß Strauß als Kanzlerkandidat der Union ausschied, und das bedeutete auch, daß die CDU den scharfen Konfrontationskurs gegenüber der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung zukünftig nicht weiterverfolgen würde. Kohl konnte unangefochten an die Spitze treten, was nicht zuletzt von den "Modernisierern" in der Partei begrüßt wurde. Seine Anhänger haben ihm nachgerühmt, daß er aus dem "Kanzlerwahlverein" CDU überhaupt erst eine Partei gemacht habe, eine Wahlkampfmaschine, deren Effizienz tatsächlich schwer zu überbieten war. Aber die "Wende" kam doch nicht durch Wahlen zustande, sondern durch die Erosion des "Vorrats an Gemeinsamkeiten" in der sozialliberalen Koalition. Daß die Bevölkerung dem Regierungswechsel von 1982 zwei Jahre später ihre Zustimmung gab, konnte deshalb nur schwer als Wunsch nach einem Bruch mit dem Gewesenen verstanden werden. Die anfangs immer wieder beschworene "geistig-moralische Wende" hatte sich schon nach kurzer Zeit erledigt. Über die "Ära, die keine war" (Ulrich Greiner) spottete bald das gerade noch in Angst vor einem kulturpolitischen roll-back lebende Feuilleton. Das Ausbleiben einer prinzipiellen Kurskorrektur hing allerdings nicht einfach mit den ideologischen Vorgaben der Modernisierer um den Generalsekretär Heiner Geissler oder mit dem Desinteresse Kohls zusammen, sondern war auf die Einsicht zurückzuführen, daß der Souverän – demoskopisch erhärtet – die neue Regierung keineswegs unterstützt hatte, um konservative "Werte" durchzusetzen.

Eine so aufmerksame Beobachterin der öffentlichen Meinung wie Elisabeth Noelle-Neumann vertrat von Anfang an die Position, daß es nach der Regierungsübernahme der Union unmöglich gewesen sei, Politik "gegen den Zeitgeist" durchzusetzen. Und dieser Zeitgeist war immer noch progressiv und hedonistisch. Tatsächlich ist eine andere Mentalität nicht einfach "machbar", was aber schwerer wiegt, ist der Verdacht, daß die CDU weniger unter dem Zwang der Verhältnisse als aufgrund schlechterer Einsicht handelte.

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Wenn sich in der Gesellschaft ein Wertewandel vollzieht, kann die CDU doch nicht so tun, als sei das alles eine Erscheinung des Zeitgeistes, und unverdrossen die Fahnen von gestern hochhalten.

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Schon in den Jahren der Opposition hatte in ihren Reihen kaum jemand ernsthaft auf eine tatsächliche Veränderung der Lage gesetzt, trotz der heftigen, immer gegen alle möglichen Ausprägungen linker Weltanschauung gewandten Rhetorik.

Denn die ideologische Substanz, von der die Union bis dahin gezehrt hatte, war endgültig aufgebraucht, der Konflikt um die neue Ost- und Deutschlandpolitik gab der Partei noch einmal ein geschärftes Profil, aber was seit den siebziger Jahren an Vorstellungen einsickerte, war bestenfalls der von Liberalen und Sozialdemokraten gerade abgehalfterte kritische Rationalismus Karl Poppers – mit dem man "so ziemlich alles machen" kann (Warnfried Dettling) und schlimmstenfalls das Bemühen, die Entwürfe der Linken für den bürgerlichen Geschmack aufzuputzen, eben "die Revolution in erträglicher Dosis" (Wulf Schönbohm).

Als Geissler Mitte der achtziger Jahre die "neuen Wählerkoalitionen" entdeckte, die an die Stelle der alten stabilen Anhängerschaft getreten waren, und den Begriff "neue Mitte" lancierte, hatte er kurz zuvor in seiner Partei noch angeeckt durch den Vorschlag, den "weichen Themen" (Frauen, Umwelt, Soziales, Frieden) Vorrang zu geben.

Als er aber 1987 zusammen mit einem der "anderen Achtundsechziger" in der Union, Peter Radunski, das Konzept erarbeitete, auf den Rückgang des Stimmenanteils der CDU bei der Bundestags- und verschiedenen Landtagswahlen durch eine veränderte programmatische Ausrichtung zu reagieren, traf er kaum noch auf Widerstand:

"Wenn sich in der Gesellschaft ein Wertewandel vollzieht, kann die CDU doch nicht so tun, als sei das alles eine Erscheinung des Zeitgeistes, und unverdrossen die Fahnen von gestern hochhalten", faßte Radunski die zentrale Einsicht zusammen.

Dem Monitum, auf dem so eingeschlagenen Weg verliere man traditionelle Wählerschichten – praktizierende Katholiken, Protestanten mit Kirchenbindung, Vertriebene, Nationale –, wurde mit Recht entgegengehalten, daß sich diese Gruppen immer stärker zersetzten, daß in der modernen Industriegesellschaft ganze Schichten wie die technische Intelligenz und die Angestellten im Dienstleistungsbereich ohne dauernde Bindung an Weltanschauung und Partei lebten und anders als früher angesprochen werden müßten.

Dieser Auffassung ist die Parteispitze trotz der bald folgenden Entmachtung Geisslers seitdem gefolgt und hat das Gewicht einmal eher nach rechts (Restriktionen in der Asylpolitik, Stärkung der inneren Sicherheit), einmal eher nach links (Abtreibungsrecht) verlagert. Ein klares Profil erschien in der "Ära Kohl" nicht nötig, solange die Parole "Weiter so!" und das Konterfei des Kanzlers, dann sogar des "Kanzlers der Einheit", für die notwendige Stimmenzahl genügte. Selbst die – offenbar von der CDU-Führung langfristig abgesehene – Niederlage von 1998 hat an dem ungebrochenen Selbstbewußtsein der noch von Kohl installierten Parteielite wenig ändern können. Erst mit dem Skandal um die Parteienfinanzierung, dem Sturz Schäubles und der Demontage Kohls hat sich grundlegendes verändert.

Es wird einiges davon abhängen, was und wieviel Angela Merkel von Helmut Kohl gelernt hat. Bis jetzt scheint sie vor allem entschlossen, dessen Verachtung des Prinzipiellen zu teilen, und bereit, diejenigen, die danach fragen, mit Spielmaterial zu beschäftigen. Wer je die Hoffnung hatte, daß nach der Wiedervereinigung aus dem Osten neue Impulse auch und gerade für die CDU kommen könnten, sieht sich einmal mehr enttäuscht. Die Karriere von Angela Merkel war von Anfang an eine Karriere nach westdeutschem Modell. Dessen Erfolg beruhte ganz wesentlich auf einer historischen Ausnahmelage: der Stabilität der Bundesrepublik infolge von permanenter Steigerung des Wohlstands einerseits und Protektion durch die Vereinigten Staaten andererseits, Moralisierung der öffentlichen Debatte und Verlust der Wahrnehmung entscheidender Bedingungen politischer Existenz. Mit der Chiffre "Berliner Republik", die lange Zeit angefeindet, sich doch allmählich etabliert, wird mindestens ausgedrückt, daß diese historische Ausnahmelage an ein Ende gekommen ist.

Das kann auf die Dauer nicht ohne Wirkung auf das Parteiensystem bleiben. Während für die SPD und selbst für die PDS und die Grünen noch genug Potential in den Anliegen der "ewigen Linken" (Ernst Nolte) steckt, muß die CDU ihre Identität neu bestimmen. Der Schriftsteller Rolf Schneider, ein Mann der Gegenseite, hat die dabei denkbaren Wahlmöglichkeiten folgendermaßen charakterisiert: "Alles in allem eröffnet sich der Union die ebenso spannende wie ergiebige Chance, die Meinungsführerschaft zu übernehmen und der auf den Trümmern ihres Weltbildes herumtänzelnden Linken ein hartnäckiger intellektueller Widerpart zu sein. Die Alternative bestünde darin, generalistisch fortzuwursteln wie bisher, auf Fehler der anderen zu lauern, Lobbyisten in Stellung zu bringen, Honoratioren zu hätscheln und irgendwann einen neuen Spitzenmann mit einnehmendem Profil zu präsentieren." Jüngst hat man sich für eine Spitzenfrau entschieden.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium. Seinen Text haben wir mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift für Politik und Kultur "Gegengift" (Edition Coko, Raiffeisenstr. 24, 85276 Pfaffenhofen) entnommen.


 
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