© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Realpolitiker
Karl Heinzen

Während die Öffentlichkeit ansonsten jedes Wort von Helmut Kohl zu seiner politischen Vergangenheit begierig aufgreift und ihm im Mund umdreht, soll er nun ausgerechnet zu jenen knapp zehn Jahre zurückliegenden Ereignissen schweigen, derentwegen er bei manchen immer noch sentimentale Anwandlungen auslöst. Dies ist ungerecht, dies ist nachtragend, dies hat mit der Sache nichts zu tun, sondern verfolgt einzig und allein den kleinlichen Zweck, ihn heute, da er endlich am Boden liegt, jene Methoden spüren zu lassen, die er in seiner großen Zeit selber so wirksam einzusetzen wußte.

Der Feiertag, an dem die politische Klasse der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam des Glücks gedenkt, die Wiedervereinigung unbeschadet überstanden zu haben, ist für solche Racheakte aber der unpassende Anlaß. Über all der Verachtung für einen Mann, dessen politisches Geschick vor allem in der Paralysierung von Gestaltungskräften lag, darf nicht vergessen werden, daß es eben diese Gabe war, die im In- und Ausland das notwendige Maß an Vertrauen in die deutsche Einheit vermittelte. Seine lange Amtszeit sollte also nicht zu falschen Vergleichen verleiten: Helmut Kohl ist keineswegs der Enkel Konrad Adenauers geworden. Seine Regierungspolitik zielte nicht darauf ab, das Erbe der Gründergeneration unseres Staates anzutreten, sondern dieses für die Nachgeborenen unschädlich zu machen. Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich nicht länger damit abmühen, Schritt für Schritt die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges ungeschehen zu machen, sondern lernen, diese als ihr eigentliches Grundgesetz zu begreifen. Man darf es Gerhard Schröder nicht übelnehmen, daß er jene Höhen, von denen herab sein Vorgänger die deutsche Bestimmung zu erkennen vermochte, noch nicht zur Gänze erklommen hat.

Helmut Kohls Name ist untrennbar mit der deutschen Einheit verbunden, weil er nicht verhindern wollte, was nicht zu verhindern war. Da sich vor 1989 weder eine politische Mehrheit noch eine adäquate Personalisierung des Bundesverfassungsgerichts finden ließ, um die DDR zum Ausland zu erklären, mußten nun die Konsequenzen ausgehalten werden. Diesen Realismus hatte er den meisten seiner Zeitgenossen im öffentlichen Leben der alten Bundesrepublik voraus, die bis zuletzt die Hoffnung nicht aufgeben wollten, den Status Quo der Teilung auch ohne Mauer und Stacheldraht bewahren zu können. Helmut Kohl hat sie alle beschämt, in dem er ihnen eine Einheit bot, in der sie sich weiterhin zu Hause fühlen konnten. Er hat dem Volk für einen Augenblick gegönnt, seine Souveränität am runden Tisch herumzureichen, um diese dann um so nachdrücklicher von ihm zurück-zuverlangen. Er hat die europäische Fremdbestimmung als Preis der deutschen Selbstbestimmung verlangt und erhalten. Er hat alle - sich selbst eingeschlossen – widerlegt, die einst einem geeinten Deutschland eine Eigendynamik unterstellten.


 
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