© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Ungezählte Barbarismen
Die neubearbeitete Duden-Rechtschreibung bleibt auf halbem Wege stehen
Theodor Ickler

Die neuesten Wörterbücher ste hen nicht mehr auf dem Boden der amtlichen "Neuregelung der deutschen Rechtschreibung". Zwar hatten die Kultusminister und das Bundesinnenministerium im Februar 1998 jede Korrektur am noch gar nicht in Kraft getretenen Reformwerk untersagt, weil sie dadurch ihr ganzes bürokratisches Unternehmen mit Recht gefährdet sahen, doch machten sich die mißhandelten Grundregeln der Sprache unerbittlich bemerkbar. Die zwischenstaatliche Rechtschreibkommission arbeitete seither unter strenger Geheimhaltung weiter an der Rücknahme einzelner Regeln, durfte zwar äußerlich am Regelwerk nichts ändern, beriet jedoch die beiden Wörterbuchredaktionen von Bertelsmann und Duden in dem Sinne, daß die Korrekturen stillschweigend in die neuen Wörterbuchbearbeitungen Eingang finden sollten. Mit besonderer Spannung ist daher die 22. Auflage des Rechtschreibdudens – weiterhin das unbestrittene Leitwörterbuch der deutschen Rechtschreibung – erwartet worden. Nun liegt es vor, und man kann die vorgenommenen Änderungen besichtigen. Sie liegen auf der Linie der Korrekturvorschläge vom Dezember 1997, gehen aber zum Teil auch neue Wege.

Der Duden von 1996 war zwar ungleich sorgfältiger bearbeitet als das von einem Dilettanten verantwortete, buchstäblich über Nacht auf den Markt geworfene Konkurrenzwerk von Bertelsmann (es erschien einen Tag nach der Unterzeichnung der Wiener Absichtserklärung, und diese war gerade deshalb gegen alle Bedenken unterzeichnet worden, weil Bertelsmann "schon gedruckt" habe, wie es damals hieß). Dennoch hätte er sofort wieder eingestampft werden müssen, weil er in einem zentralen Bereich die freilich sehr unklaren neuen Regeln falsch verstanden hatte. Ich meine die neueingeführte obligatorische Getrenntschreibung von "wiedersehen" und gut zwanzig weiteren häufigen Verben. Der Fehldeutung schlossen sich alle Schul- und Wörterbücher, Nachrichtenagenturen und Zeitungen an, binnen kurzem auch Bertelsmann. Dazu trug bei, daß die schwere Geburt der zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission nicht vorankam und lange Zeit überhaupt keine Instanz mehr existierte, die bei der Auslegung des hermetischen Regelwerks hätte helfen können.

Zu den größten Überraschungen gehört es nun, daß der neue Duden ebenso wie die überarbeitete Neuauflage des Bertelsmann immer noch daran festhält, "wiederaufrichten", "wiederherrichten" und eine Handvoll ähnlicher Verben getrennt zu schreiben. Da die Kommission hier mitgewirkt hat, muß man annehmen, daß auch sie den wahren Sachverhalt nicht durchschaut, obwohl wir uns in zahlreichen Schriften bemüht haben, es ihr zu erklären. Also noch einmal: Getrennt geschrieben wird der Verbkomplex laut Regelwerk, wenn "wieder" die Bedeutung "nochmals, erneut" hat: "er kann wieder sehen". Das war auch bisher schon so. Wer aber etwas "wiederaufrichtet", hat es nicht zuvor schon einmal aufgerichtet und richtet es nun nochmals auf, sondern bringt es durch Aufrichten in den vorigen Zustand zurück. Folglich bleibt es bei der herkömmlichen Zusammenschreibung. Wenn mir etwas "wiedereinfällt", muß es mir nicht früher schon einmal eingefallen sein; vielmehr habe ich es früher einmal gewußt, und dieser Zustand wird durch das Einfallen wiederhergestellt (was ebenfalls nicht heißt "nochmals hergestellt"; aber in diesem Fall hatten die Dudenredakteure den Fehler gar nicht erst begangen und brauchten daher nichts zu korrigieren).

Bei den Zusammensetzungen mit "hoch-" und "wohl-" ist das Durcheinander noch größer geworden: "hochauflösend", aber "hoch empfindlich", "hochgeschossen", aber "hoch geehrt" usw.; "wohlschmeckend" kann auch getrennt geschrieben werden, "wohlriechend" nicht; es heißt "wohl bedacht", aber "wohlausgewogen", "wohl behütet", aber "wohlbehalten" usw. in bunter Mischung, nicht lernbar und nicht auf andere Fälle anwendbar.

Möglicherweise haben sich die Reformer und ihre lexikographischen Erfüllungsgehilfen etwas bei ihren Entscheidungen gedacht, aber es scheint nichts Vernünftiges gewesen zu sein, denn das Ergebnis ist von so horrender Willkür, daß niemand mehr ernsthaft behaupten kann, die Rechtschreibung sei in irgendeinem Sinne leichter geworden.

Der Hauptfehler des alten Duden, die dogmatische Einzelwortfestlegung, ist ins Groteske übersteigert. "Blutsaugend", "vielsagend" und eine Reihe anderer Ausdrücke sind wiederhergestellt, aber der ganze Komplex "eisenverarbeitend", "erdölexportierend", "energiesparend" usw. noch nicht. Das bleibt der nächsten Besinnung auf sprachliche Grundregeln vorbehalten. Dann wird man vielleicht auch wieder wissen, daß es ein Unterschied ist, ob jemand sich "Hilfe suchend" umschaut oder mit "hilfesuchendem Blick"; im ersten Fall sucht er wirklich Hilfe, im zweiten wirkt er nur hilflos. Die obligatorische Getrenntschreibung gehört zu den ungezählten Barbarismen, zu denen diese Reformer in ihrem Feldzug gegen eine hochentwickelte Sprachkultur sich hinreißen ließen.

Das amtliche Regelwerk schreibt Getrenntschreibung bei "schwer behindert" und "schwer verletzt" vor. Duden stellt nun die Zusammenschreibung bei "schwerbehindert" wieder her, bei "schwer verletzt" aber nicht. Erst bei Substantivierung soll plötzlich auch die Zusammenschreibung ("der Schwerverletzte") wieder zulässig sein – für Grammatiker ein reichlich mysteriöser Vorgang, bei dem sich die Dudenredaktion gegen besseres Wissen den Reformdesperados angeschlossen hat, mit denen sie nun einmal im selben Boot sitzt.

Von der Bertelsmannfraktion der Reformer wegen angeblich unvollständiger Angabe der Trennmöglichkeiten angegriffen, gibt der Duden nun wirklich alle denkbaren Trennungen auch wirklich an. Es ist beinahe komisch, wie sich alle neuen Wörterbücher mit dem Wort "Harvarduniversität" herumschlagen, das man zwar selten ohne Bindestrich antreffen dürfte, das aber genau in dieser Form nun einmal im alten Duden stand. Der erste reformierte Duden, der in Fragen der Silbentrennung noch eine gewisse Besonnenheit an den Tag legte, trennte vernünftigerweise "Harvard-universität". Bertelsmann trumpfte mit "Harvardu-niversität" auf, und das findet man nun auch im neuen Duden. Niemand weiß, was mit solchen und vielen tausend ähnlichen Trennungen eigentlich erreicht werden soll. Im strategischen Abwehrkampf gegen die Konkurrenz mag es einen kleinen Vorteil verschaffen, aber für die ratsuchenden Benutzer ist es kein Gewinn, und den Programmierer von Rechtschreibsoftware stellt es vor unlösbare Probleme.

Probleme? In Hunderten von Fremdwörtern kommt die Vorsilbe "pro-" vor, stets klar erkennbar und in der Fremdwortbildung ständig produktiv genutzt. Der Reformduden wollte uns dennoch "Prob-lem" als Trennung erster Wahl aufschwatzen und verwies nur nebenbei auf eine Richtlinie, derzufolge auch die natürliche Trennung zulässig sei. Die Neubearbeitung bietet beide Trennungen gleichrangig an; ebenso "Prog-nose", aber weiterhin nur "Pro-gramm". Das Ganze ist nicht nur überflüssig, sondern führt dazu, daß man sich auch mit der neuen Rechtschreibung mehr oder weniger blamieren kann; und das sollte doch gerade verhindert werden.

Das neue Werk macht zwar einige Fehler – eigene und von den Reformern begangene – rückgängig, bleibt aber auf halbem Wege stehen. Ob und wie weit es wirklich "die von der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung bis zum Redaktionsschluss geklärten Zweifelsfälle" aufgenommen hat, wie das Vorwort versichert, läßt sich nicht überprüfen, da die Reformer in den vergangenen Jahren niemals an eine Veröffentlichung ihrer Klarstellungen gedacht, sondern die vollständige Information nur ihren Freunden und Geschäftspartnern mitgeteilt hat.

In allen Schreibberufen und an den Schulen wird auch nach der Aufhebung des sogenannten Dudenprivilegs nicht das weitgehend unverständliche Originaldokument zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung benutzt, sondern der Duden. Alle Konkurrenzwerke, aufgrund ihres meist geringeren Preises in diesem oder jenem Kaffeegeschäft oder Supermarkt erworben, verstauben mehr oder weniger unbenutzt in den Bücherschränken. Dennoch muß man bezweifeln, daß der neue Duden dazu beiträgt, "den Umstellungsprozess auf (!) die neuen Regeln und Schreibungen zu erleichtern", wie das Vorwort in falschem Deutsch verspricht. Die Marktführerschaft kann dem Dudenverlag zum Verhängnis werden, weil nun jedermann nur allzu klar erkennen kann, daß die Rechtschreibreform offenbar eine Quelle ständiger Unsicherheit geworden ist. Während man sich früher durch manchmal haarspalterische und gewiß unnötige Sonderregeln des alten Duden quälte, das Kapitel Rechtschreibung damit aber als abgetan gelten konnte, sind nun alle Selbstverständlichkeiten aufgehoben, und zwar im Kernbereich der Sprache, bei den häufigsten Wörtern.

Bleibt es bei der sinnlosen Aufspaltung von "so genannt", oder hat die Kommission dies zurückgenommen? (Und wie kürzt man es eigentlich jetzt ab? Duden meint "sog." – aber wie ist das mit der Getrenntschreibung zu vereinbaren, und stimmt es überhaupt?)

Daß wir uns jetzt alle paar Zeilen mit solchen Fragen herumschlagen müssen, ist ein neuer Zustand, hervorgerufen durch Behördenwillkür und Mangel an Sachverstand, und es ist gar nicht abzusehen, wie lange das noch so weitergehen soll. Ein schnelles Ende des "Wunderwerks" (so der Reformer Heller kürzlich über die Neuregelung) wäre bei weitem vorzuziehen.

 

Prof. Dr. Theodor Ickler lehrt germanistische Linguistik an der Universität Erlangen.


 
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