© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Der große Unzeitgemäße
Im 21. Jahrhundert wird die Bedeutung der Gedanken Friedrich Nietzsches weiter zunehmen
Baal Müller

Wenn Nietzsche die letz ten Jahre seines Lebens nicht als besinnungsloser Geisteskranker verdämmert hätte, könnte man fast den Eindruck gewinnen, er sei ganz bewußt und programmatisch an der Schwelle zum neuen Jahrhundert gestorben – vielleicht um zu demonstrieren, daß er als "Erstling des zwanzigsten Jahrhunderts" dieses schon zu gut kenne, um auch noch selbst darin leben zu müssen.

Ein Rückblick hundert Jahre nach seinem Tod kann diese Einschätzung nur bestätigen: Kaum eine geistige Bewegung der Moderne hat sich nicht auf Nietzsche berufen, ist nicht von ihm beeinflußt oder sah sich nicht gezwungen, ihn zu "überwinden". Décadence und Fin de siécle, Expressionismus und Futurismus, Surrealismus und Konservative Revolution, Psychoanalyse, Lebensphilosophie, Existentialismus und Hermeneutik – fast alle geistigen Strömungen und Denkschulen, darunter auch ausgesprochen entgegengesetzte Richtungen, wurden von seinem aphoristischen und jede philosophische Systematik verweigernden Stil oder seinem weniger an Abstraktionen als vielmehr an konkreten Lebens- und Kulturerscheinungen orientiertem Denken geprägt. So sah man in Nietzsche den scharfsinnigen Psychologen und Erforscher des Unbewußten, den Entlarver von heimlichen Ressentiments und Zertrümmerer überlebter Wertvorstellungen, den unheimlichen Verkünder des Nihilismus und Prediger des Übermenschen. Gerade der unsystematische und oft von Widersprüchen nur so strotzende Charakter seines Werkes machte es Nietzsches Anhängern und Interpreten so leicht, ihn mißzuverstehen und auf diese oder jene griffige Formel zu verkürzen.

Besonderer Beliebtheit erfreuten sich bei seinen einfältigeren Lesern bekanntlich der "Übermensch" sowie der von Nietzsches Schwester für die damalige politische Korrektheit editorisch hinfrisierte "Wille zur Macht". Dieser kennzeichnet allerdings kein bestimmtes soziales Verhalten, sondern er ist das Prinzip jeder, auch der unterwürfigsten Handlung, und darüber hinaus nach Nietzsche das Wesen der Wirklichkeit überhaupt. Wenn es, gemäß seiner späten Aufzeichnungen, nur Willen zur Macht gibt, dieser in einem kosmologischen Sinne als energetisches Quantum zu denken ist, das alle möglichen Gestaltungen hervorbringt, dann kann, in einer unendlichen Zeit, auch nichts schlechthin Neues geschehen. Alles ist dazu verurteilt, ewig wiederzukehren – in dieser Botschaft sah Nietzsche seinen abgründigsten Gedanken, dessen Hoffnungslosigkeit nur ein Übermensch auszuhalten imstande sei.

Jede Erlösung, jedes Jenseits, ja auch jedes Ansinnen, die Welt auf einen "besseren" Zustand hin zu reformieren, wird als Ausdruck von lebensverneinender "Sklavenmoral" gesehen, deren Werte und Normen sich ab einer bestimmten Stufe der menschlichen Erkenntnis selbst widerlegen und entwerten. Der Übermensch ist somit weniger ein Ergebnis von biologischer Zucht und Selektion, sondern vielmehr der Zustand eines Wesens, welches das große "Ja" gelernt hat: das "Ja" zu allen schönen, abenteuerlichen, grausamen und absurden Seiten des Lebens.

Was sich so leicht dahinsagen läßt, ist indessen nach wie vor kaum wirklich – und das heißt für Nietzsche nicht nur in einem intellektuellen, sondern auch in einem lebenspraktischen Sinn – nachvollziehbar; entsprechend ist auch die Frage zu stellen, wer von den zahllosen Nietzscheanern des 20. Jahrhunderts tatsächlich in seiner Nachfolge steht.

Trotz der zahlreichen oben aufgezählten Ismen, die verschiedene Gedanken Nietzsches weiterführen und von denen einige zu großen Deutungen nicht nur Nietzsches, sondern des Menschen und seiner metaphysischen Bestimmung gelangt sind, wird vielleicht erst das 21. Jahrhundert Nietzsche zu Ende denken – wenn ein solches Zu-Ende-Gelangen überhaupt möglich ist.

Tatsächlich können sich nur wenige auf Nietzsche berufen, insbesondere nicht jene großen ideologischen Formationen, die noch heute die politische Landschaft bestimmen. Die klassische Linke mit ihrem Streben nach Gleichheit und Fortschritt fällt für Nietzsche ebenso unter das nicht eben schmeichelhafte Verdikt der Sklavenmoral wie der christliche Konservatismus; und der chauvinistische Nationalismus hat Nietzsche nur deshalb feiern können, weil er seine Lehre vom Willen zur Macht politisch verkürzte und seine Äußerungen über Europa, die europäischen Völker und zumal die Deutschen ignorierte.

Trotz aller Ehrungen läuft der große Unzeitgemäße nicht Gefahr, zeitgeistkonform zu werden; seine unterschwellige Aktualität aber steigt mit dem Wachsen unseres Wissens und dem Schwinden unserer Sicherheit.


 
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