© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Das Geschäft der Priester
Wahrheit und Lüge: Friedrich Nietzsche und die Apologie der Masskenspiele
Günter Zehm

Eine der Grundüberzeugungen Friedrich Nietzsches lautete: Es ist nicht möglich, Sprache und Sachverhalt je zur Deckung zu bringen, und zwar schon deshalb nicht, weil es "objektive" Sachverhalte, "Wahrheit im außermoralischen Sinne", wie er auch sagte, gar nicht gibt. Wahrheit als "Hinterwelt", als ein- für allemal festgelegter Ideenhimmel, existiere einfach nicht, wir dürften sie reinlicherweise gar nicht denken, geschweige denn versprachlichen. Unsere Denkstruktur und mithin auch unsere Sprachstruktur seien originaliter auf Nützlichkeit angelegt, nie und nimmer auf sogenannte Wahrheit. Unser Denken diene dem Überlebenskampf, dem Machtkampf, sei Funktion des lebendigen Körpers, der sich behaupten muß und ausdehnen will.

Wenn wir Phänomene, Sachverhalte bedenken, also versprachlichen, dann überführen wir sie laut Nietzsche nicht in die Wahrheit, und es tritt auch keine Wahrheit von irgendwoher in unsere Sprache, in unser Denken ein. Vielmehr "bannen" wir die Phänomene,
d. h. wir machen sie für uns funktionsfähig, so daß wir mit ihnen rechnen können, in jeder Beziehung dieses Wortes. Benennung, mit Sprache überziehen, ist Bannen, man kann auch sagen: Verdinglichen, Verwandlung des ewig fließenden Lebensstroms, Bewußtseinsstroms in Dinghaftigkeit, in "Sein" – "Sein" natürlich in Gänsefüßchen, denn ein Sein jenseits des Werdens gibt es ebenfalls nicht. Das "Sein" aus den Gänsefüßchen zu entlassen, es gleichsam "für" das Werden zu nehmen, ist die Ursünde der abendländischen Metaphysik.

Außer der Verdinglichung, der "Bannung" des lebendigen Werdens zum Zwecke seiner Benutzung, dient die Sprache auch noch (und sogar in erster Linie) der Kommunikation, also der Verständigung der Menschen untereinander. Aber auch in der Kommunikation wird nichts weniger als Wahrheit erzeugt, im Gegenteil, die Kommunikation ist der Quell der Lüge ("Lüge" natürlich ebenfalls im außermoralischen Sinne). Nur ein kleiner Teil unseres Sprechens, unserer Verständigung durch Zeichenabgabe respektive Zeichen-empfang, dient der Herstellung von Identität, dergestalt also, daß ich und der andere das gleiche ins Auge fassen. Das Herstellen von Gleichungen in der Kommunikation ist nach Nietzsche immer nur Vorspiel. Ich locke den anderen durch Identitätsangebote in ein Sprachfeld, in dem immer nur ich selbst der Herr zu sein begehre.

Mein Sprechen, wenigstens insofern, als es bewußtes Sprechen ist, hinter dem ein eigener Wille steht, ist tendenziell immer Sprach-Schöpfung. Ich bringe Wörter, aber vielleicht auch nur Sprachmodulationen, Gesten, Zeichen, ins Spiel, die – um die berühmte Formulierung Nietzsches zu bringen – "standhalten", die der andere wohl oder übel akzeptiert, auch wenn ihm das vielleicht gar nicht nützt. Er kapituliert dennoch vor meinem Wort, doch keinesfalls, weil ich die Wahrheit herausgebracht habe, sondern weil mein Wort mächtiger war als das seine.

Natürlich kann die Macht eines Wortes, die Anerkennung seiner Geltung, durch außersprachliche Mittel erzwungen werden; sehr oft, vielleicht sogar meistens, geschieht das auch. Der an Waffen und physischer Kraft Starke hat, worauf ja schon Thomas Hobbes hinwies, in der Regel das semantische Befehlsmonopol, er kann einfach verfügen: "So und so ist zu denken, dieses und kein anderes Wort ist zu verwenden!" Aber der Waffenträger, der physisch Mächtige, der "Krieger", muß doch dauernd Konkurrenz fürchten, nämlich die Konkurrenz der "Priester", die die eigentlichen Wortstifter sind und von daher ihrerseits nach Macht streben.

Die Macht der Krieger, der Politiker, der mächtigen Praktiker, ist im Grunde beschränkt, entfaltet sich in Ausnahmesituationen, im Kriegsfall eben, wo es meistens auf knappe, gebrüllte Kommandos ankommt. Im Alltag des Lebens hingegen, bei der Benennung von feineren Differenzen und vor allem beim Kontakt mit dem Unsichtbaren, dem Willen der Götter, kommen die Priester zum Zuge, überflügeln an Sprachkompetenz die Krieger spielend, richten zuletzt ihr ganz eigenes Regime auf.

Und hier dann kommt die Hinterwelt ins Bild – und die Lüge. Die Priester brauchen den numinosen Bezug, die Hinterwelt, um die Oberhand über die Krieger zu erringen, und deshalb erfinden sie sie – das ist also die Geburt der Lüge, der Lüge an sich, der Sprachlüge. Indem von einem vorbeirauschenden (mag sein: immer wieder in ähnlicher Form vorbeirauschenden) Phänomen gesagt wird: "Das ist so und so", wird es aus dem Werden ins Sein überführt und dadurch fungibel und nützlich gemacht, mit anderen Worten: wird die Hinterwelt geschaffen. Und dies war von Anfang an das Geschäft der Priester.

Was sie taten, war durchaus nützlich, das Leben bekam dadurch Schwung und Haltbarkeit zugleich. Aber es war dennoch Lüge, die Lüge. Die Priester haben das Sein nicht in dem Sinne erfunden, daß sie sich einfach etwas ausdachten, damit ihre Macht befestigt werde, sich zum Beispiel "Gott" ausdachten und frech behaupteten, sie und sie allein hätten den Draht zu Gott. Sondern die große Lüge liegt in der Sprache selbst, jedenfalls nach Meinung von Nietzsche. Das Benennen von Phänomenen zum Zwecke nützlicher Kommunikation, ihre dauerhaufte Verbindung mit der Copula ist – das ist das Wesen der Sprache und im selben Takt der Ursprung der Lüge.

Es gibt vorsprachliche Kommunikation, spontane, in der Natur liegende Abgabe und Empfängnis von Zeichen; auch die Tiere verfügen über solche Zeichensysteme, freilich ohne daß sie je daran dächten, die von ihnen spontan eingesetzten Zeichen zu prädikatisieren, sie mit einem ist zu versehen. Deshalb sind die Tiere, wie Nietzsche sagt, "ehrlich", kennen die Lüge nicht, auch wenn sie – etwa beim Beutefang – die fiesesten Tricks anwenden. Erst die Sprache mit ihrem originären Duktus des Prädikatisierens, des Bannens, der Verwandlung von Werden in Sein, macht die Kriegslist zur Lüge.

Die Krieger stehen gewissermaßen noch im Zeichen der tierischen Unschuld, sie wenden in aller Ehrlichkeit der Natur Kriegslisten an. Aber die Priester sind habituelle Lügner, und zwar weil sie sich ausdrücklich auf die Grammatik der Sprache eingelassen haben, weil sie prädikatisiert haben. Sie haben damit ihrerseits die einst führenden Krieger überlistet.

Nietzsche stellt sich pathetisch auf die Seite der Krieger und gegen die Priester, nicht zuletzt wenn diese in modern-aufklärerischer Weise als "Rationalisten", als "Erkenntnistheoretiker" posieren. Wenn es keine Wahrheit gibt, sagt Nietzsche, dann gibt es auch nichts zu erkennen, sondern es geht einzig darum, die vorbeirauschenden Momente des Werdens nutzbar zu machen, berechenbar zu machen, einsatzfähig zu machen.

Der europäische Rationalismus, der so sehr auf Mathematik kapriziert war und ist, weil sich mit ihrer Hilfe so herrlich nützliche Dinge optimieren und nutzbar machen lassen, hat ein Gleichheitszeichen zwischen Mathematik und Wahrheit gesetzt. Aber woher bezog er die Legitimation für ein solches Unternehmen? Was uns nutzt, was unsere Maschinen zum "Funktionieren" bringt und das elektrische Licht anknipst, weshalb nennt man es "Wahrheit"? Da wird etwas aus einem ganz fremden Kompetenzbereich dazugetan, eben aus dem Geschäft der Priester, die ihre Herrschaft gegenüber den Kriegern rechtfertigen wollen.

Solche Polemik wirkt beim ersten Abtasten wie aus einem Guß, aber man fragt doch unwillkürlich: Weshalb diese große, unendliche Wut des Sprachmeisters Friedrich Nietzsche auf die Priester? Sicher, sie hetzen mit ihrer Hinterwelt die "Tschandalas", die Zukurzgekommenen und Ressentimenterfüllten, gegen die feinen Aristokraten, gegen die Schönen und Tapferen auf – aber sie tun das (gerade wenn man Nietzsche folgt) nur, um damit ihre eigene Herrschaft zu festigen. Wie kann man denn, von den Nietzscheschen Prämissen aus, gegen wirksame Formen der Herrschaftssicherung sein? So funktioniert der Wille zur Macht nun mal.

Außerdem sind es doch die Priester (und nicht die Krieger), die die Sprache ernstnehmen, also genau das tun, was auch einem Nietzsche teuer war. Nietzsche war selber ein Priester, hat in seinem "Zarathustra" auch alle Akzidenzien des Priestertums angenommen: die hohe, feierliche Gebärde, den unentwegten Predigerton, das Sprechen in Gleichnissen.

Die Sprache lügt, sagt Nietzsche, lügt von Natur aus; die Lüge ist ihre Natur, und alles, was sie tut: das Benennen und das Kommunizieren mit anderen, ist Lüge, ist auf Täuschung und Maskierung und gegenseitige Überwältigung aus. Wer so etwas sagt – und trotzdem nicht, etwa im Stile der asiatischen Weisheitslehrer, der Zen-Buddhisten, in Schweigsamkeit und philosophische Enthaltsamkeit fällt, sondern im Gegenteil ein ungeheures Feuerwerk der Sprache veranstaltet, die Sprache keineswegs nur als Kasernenhoftrompete à la Hobbes benutzt, sondern aus ihr alle, aber wirklich alle, ästhetischen Möglichkeiten heraushämmert, wer mit ihr unsterbliche Gedichte schreibt, in die er seine ganze Einsamkeit hineinlegt –, wer so etwas tut und dennoch immer wieder verkündet: "Lüge, Lüge, nichts als Lüge das alles!", der gerät in die Bredouille, der setzt sich gar, völlig überflüssigerweise, dem Hohn banaler Vulgärpsychologen aus.

Nietzsche, so der Tenor der hämischen Vulgärpsychologie, wäre lieber ein Musiker gewesen denn ein Sprachkünstler, einer wie Richard Wagner. "Sie hätte singen sollen, diese Seele." Aber da es dazu nicht reichte, da das, was er selbst oder sein Freund und Helfer Peter Gast komponierten, im genauen Sinne nichts taugte, warf er sich auf die Sprache – um sich an ihr zu rächen, sich an der Sprache zu rächen für die eigene musikalische Ohnmacht! Wahrhaftig eine heillose Konstellation!

Dabei ist die Rede von der Täuschungsstruktur, der Maskenstruktur der Sprache ein großer Einfall, vielleicht der größte, der dem Denker Nietzsche zuteil geworden ist. Andere Sprachtheorien sehen das Problem gar nicht, auch der Dialog "Kratylos" von Plato zeigt sich ahnungslos. Dort streitet man sich darüber, ob bei der Benennung der Dinge irgendwie der Versuch einer Mimesis gemacht wird, ob also bestimmte Eigenschaften der benannten Phänomene von der Sprache irgendwie (lautmalerisch zum Beispiel) nachgeahmt werden, um am Ende zur Verneinung dieser Frage zu gelangen und sich mit der "Einsicht" zu begnügen, daß die Benennung "willkürlich" sei. Nietzsche ist da von anderem Karat.

Die Übereinstimmung, die Identität von Sache und Wort, interessiert ihn gar nicht, ja, er sieht gar keine Notwendigkeit von irgendwelchen Übereinstimmungen, da es ja auch die "Dinge" gar nicht wirklich gibt. Was es statt dessen gibt, ist der Tanz des Werdens, der Tanz des Schiwa, der Knoten der ewigen Wiederkehr. Die Sprache bringt diesen Tanz zum Stehen, löst ihn wie ein Kinofilm in viele tausend kleine stehende Einzelbilder auf. Und dadurch maskiert sie den großen Tänzer natürlich, macht ihn unsichtbar, unhörbar, unriechbar, unschmeckbar, unwahrnehmbar.

Doch indem sie das tut, enthüllt sie doch auch, zumindest macht sie mißtrauisch gegenüber der Hülle, macht Lust auf dauernde Demaskierung. Sie stiftet also ein Geheimnis. Man darf sich wundern, daß Nietzsche dies so wenig reflektiert hat.

Einerseits tobt in seinem Werk, spe-ziell freilich in der mittleren, positivistischen Periode, die Sucht nach Demaskierung; allem und jedem soll "die Maske heruntergerissen" werden. Andererseits wird immer wieder mit gleicher Vehemenz behauptet, daß nichts dahinter ist, daß es keine irgendwie geartete Hinterwelt gibt. Aber wenn demaskiert werden soll, muß doch etwas dahinter sein, wenigstens ein Geheimnis! Anders wäre Demaskierung ebenso überflüssig wie unmöglich.

Der Duktus der Sprache wird zur großen Weltmetapher. Die Welt, so sagt diese Metapher, ist sich selber ein Geheimnis, auch und gerade dann, wenn der Mensch ihr nicht zuschaut. Die ungeheuren Energien, die der Kosmos dauernd freisetzt, die gewaltigen Protuberanzen der Sternennebel und der biologischen Evolution und der Produktivität der Sprache selbst – sie künden von der Welt und machen sie doch zum Rätsel, erzeugen in jedem reflektierenden Geist automatisch die Frage nach dem Warum, wecken eine unendliche Sehnsucht auf, öffnen Horizonte.

Wenn Nietzsche etwas entgegenzuhalten ist, dann in erster Linie dies: Es gibt eine Hinterwelt, und sei es nur als Geheimnis. Er selbst mit seiner Apologie der Maskenspiele hat diesen Gedanken unabweisbar nahegelegt.

 

Prof. Dr. Günter Zehm lehrt Philosophie an der Universität Jena.


 
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