© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Ja zur Absurdität des Leben
Nietzsches Radikalität im Denken basierte auf der Erfahrung und Diagnose von Krisen
Baal Müller

Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit." Trotz der erheiternden oder befremdlichen Wirkung, die Nietzsches im "Ecce homo" vorgenommene Selbsteinschätzung beim heutigen Leser auslöst, kann man sie nicht mit dem Verweis auf den nahenden Ausbruch seiner Geisteskrankheit abtun. Zu viele seiner Prophezeiungen, etwa von Kriegen, "wie es noch keine auf Erden gegeben hat", scheinen tatsächlich eingetreten zu sein, und so aktuell wirkt das Denken dieses am 25. August 1900 umnachtet Verstorbenen, daß man ihn nicht nur als Philosophen des 20., sondern noch des 21. Jahrhunderts betrachten möchte.

Nietzsches Radikalität, sein experimentelles Leben und Denken, entspringen aus der Erfahrung und Diagnose einer Krise, in der wir uns noch immer befinden. Bevor im folgenden gezeigt werden soll, worin "Nietzsches Krisen" bestehen und inwiefern sie auch heute noch aktuell sind, ist eine Verständigung über den Begriff der Krise notwendig: Krise, griech. krisis, bedeutete ursprünglich sowohl die Scheidung, den Streit, als auch Entscheidung und Urteil. Das objektive Moment der Krise und das subjektive der Kritik, der Beurteilung, wurden also noch in einem gemeinsamen Ausdruck zusammengefaßt; es lag nicht erst die Krise vor, die anschließend so oder anders beurteilt wurde, sondern es war die Krise selbst, die sich auf eine Entscheidung hin zuspitzte.

Der Begriff der Krise wurde zunächst im politischen, militärischen und juristischen Bereich verwendet. Eine theologische Bedeutung erhielt er in der Vulgata, wo er, mit "iudicium" übersetzt, sowohl göttliches als auch menschliches Recht und Gericht bezeichnet. In der Johannesoffenbarung meint "krisis" das Jüngste Gericht, wodurch der Begriff eine zeitliche Komponente erhält, die ihn für den neuzeitlichen Krisendiskurs verfügbar macht. Daneben kennt der Begriff auch eine medizinische Verwendung, die sich erstmals im "Corpus hippocraticum" findet. Danach ist die Krise eine von Fieber und anderen Symptomen begleitete Phase einer Krankheit, in der entweder eine Wendung zum Besseren oder zum Schlechteren eintritt.

Von Carl Gustav Carus wurde der Begriff der Krise in analoger Bedeutung in den psychologischen Sprachgebrauch übertragen, wo er heute in Formulierungen wie Werdens-, Reifungs- oder Identitätskrise geläufig ist. In der seit dem 17. Jahrhundert üblichen Anwendung des Krisenbegriffs auf historische, politische und ökonomische Zusammenhänge verbindet sich die medizinische Bedeutung, deren Verwendung im gesellschaftlichen Kontext durch organologische Staatsmodelle begünstigt wurde, mit der apokalyptischen der Johannesoffenbarung. Seitdem ist er fester Bestandteil der meisten geschichtstheoretischen Analysen, in denen, je nach politischem Standort des Urteilenden, entweder das katastrophische Moment oder dasjenige der Läuterung und Besserung überwiegt. Mit seiner volkswirtschaftlichen Verwendung gewinnt er schließlich auch eine zyklische Komponente sowie einen Machbarkeitsaspekt, insofern Konjunkturkrisen durch geeignete Politik überwunden werden können.

Im heutigen Sprachgebrauch laufen alle diese Bedeutungsstränge, freilich ohne den Aspekt der "Kritik" zusammen: Die Krise ist eine aus immanenten Bedingungen resultierende Phase der Instabilität eines Systems, welches in einen anderen Zustand übergeht. Für diesen sind zwei entgegengesetzte Möglichkeiten denkbar, es ist allerdings noch offen, welche von ihnen eintritt.

Nietzsche sieht sich durch seine besondere physische Konstitution zur Krisendiagnose befähigt: "Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Specialität war ich décadent." Mit seiner Abstammung von einer gesunden Mutter und einem kränkelnden, früh verstorbenen Vater erklärt er sich seine "feinere Witterung" für "die Zeichen von Aufgang und Niedergang": "ich kenne Beides, ich bin Beides." Aus der krankheitsbedingten Übersensibilisierung resultieren seine "Dialektiker-Klarheit", seine "Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie des ’Um-die-Ecke-sehns’". Da die Gesundheit aber, nach Nietzsches Auffassung, seine Krankheit bei weitem überwiegt, glaubt er, die in Zeiten der Krankheit gewonnenen Erfahrungen in gesündere Phasen seines Lebens hinüberretten, ja sogar sein Leben durch die Krankheit stimulieren zu können.

Gesundheit und Krankheit sind letztlich die Voraussetzungen einer artistischen und experimentellen Lebensform: dem Kranken ist das Leben nicht mehr selbstverständlich, seine Krankheit löst ihn aus dem Lebensstrom heraus, macht ihn reflexiv und schärft seine psychologischen Sinne, ja sie läßt ihn sogar zu einem Seismographen der allgemeinen Dekadenz werden, so daß der gesellschaftliche und der individuell-medizinische Krisenbegriff zusammenfallen; die Gesundheit hingegen ermöglicht ihm, die Haltlosigkeit zu bestehen, sie als Existenzweise des freien Geistes anzunehmen und das Beliebige zugunsten eines neuen Unbekannten und Unbedingten zu verabschieden. Als stilistischen Ausdruck der modernen Dekadenz betrachtet Nietzsche Wagner: Seine Kunst ist Nervenkunst mit "convulsivischen Affekten", dargeboten von Hysterikern für übersensible Nerven, seine ganze "nervöse Maschinerie" ist eine "Gesammterkrankung", deren überfeinerte Spätheit, verführerische Aufreizung und wortreiche Schauspielerei ihn zum "modernen Künstler par excellence" machten.

Interessant ist Nietzsches formale Analyse der Wagnerschen Dekadenz und der an ihm zutage tretenden "Krisis des Geschmacks". Diese besteht darin, "daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr."

Wille zur Distanzierung von Vergangenheit

Die von Nietzsche am "Fall Wagner" konstatierte Krise des Geschmacks verweist auf eine ihr zugrunde liegende Krise des historischen Sinns, die er in seiner bekannten zweiten Unzeitgemässen Betrachtung "Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben" analysiert und mit einer Geschichtsbetrachtung im Dienste des Lebens zu überwinden sucht: "Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es giebt einen Grad, Historie zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet."

Diese historische Krise, von der Nietzsche seine gelehrten Zeitgenossen betroffen sieht, glaubt er im Fehlen der plastischen Kraft begründet, die eine Kultur zu organischem Wachstum, Regeneration und Assimilation befähigt. Um diese wiederherzustellen, unterscheidet Nietzsche drei Arten der Historie: die monumentalische, die antiquarische und die kritische. Der monumentalisierende Betrachter der Geschichte sucht in ihr vor allem Vorbilder für die Gegenwart; er sieht vornehmlich das Große und Heroische und erbaut sich an der Gewißheit, daß das Große, weil es einmal wirklich war, auch wieder möglich werden könne. Dabei hält er das allenfalls Ähnliche für gleich und mißachtet die immer unterschiedlichen Bedingungen, die das Vergangene niemals so wie einst wiedererstehen lassen.

Auf andere Weise dem produktiven Schaffen abträglich ist die antiquarische Historie. Zwar sucht auch sie dem Leben zu dienen, indem sie das Bestehende zu bewahren und künftigen Generationen zu überantworten sucht, aber sie unterliegt der Gefahr, ihr Gesichtsfeld allzusehr zu beschränken und sich im Kleinen und Nahen zu verlieren. Um dem Neuen Raum zu geben und Bahn zu brechen, ist es bisweilen nötig, sich der dritten Art der Geschichtsbetrachtung zu bedienen, der kritischen: Der Mensch "muss die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, dass er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert, und endlich verurtheilt."

Auch der kritische Umgang mit der Geschichte hat seine Probleme, denn die Vergangenheit, aus der man selber stammt, läßt sich nicht einfach abstreifen; dennoch ist ein Wille zur Distanzierung möglich und notwendig, um nicht immer wieder heimgesucht zu werden von einer Vergangenheit, die "nicht vergehen will" – bzw. die einflußreiche Kreise nicht vergehen lassen möchten. Alle drei Arten der Historie sind nach Nietzsche gleichermaßen sinnvoll und legitim; welche im Einzelfall aber zu bevorzugen ist, hängt von der jeweiligen historischen und historiographischen Situation ab.

Nietzsches Kampf gegen den historischen Ballast entspringt seiner Parteinahme für das Leben. Aus demselben Grunde führt er seine radikalen Attacken gegen die christliche Moral, die Hypostasierung von Wahrheit und Erkenntnis durch die traditionelle Philosophie, gegen die Logik und die ihr zugrundeliegende Metaphysik des Seins und der Präsenz. Wenn wir von der existenziellen Krisenerfahrung ausgehen, die er in "Ecce homo" als Grundbedingung seiner Krisendiagnose angibt, dann gelangen wir zu den Krisen des Geschmacks und des Historismus, zur Krise der Moral und schließlich zur Krise der Kultur schlechthin, die ihrerseits in einer Krise des abendländischen Denkens gipfelt. Gemeinsame Merkmale dieser Krisen sind die Abkehr vom Leben, die Untreue gegen die Erde und die Herrschaft der Abstraktion.

Gegensatz von Herren- und Sklavenmoral

Die kulturelle Dekadenz beginnt nach Nietzsche mit dem Gegensatz zweier Moralen, nämlich Herren- und Sklavenmoral. Die erstere ist gekennzeichnet durch Stolz auf die eigene Wohlgeratenheit, Dankbarkeit und Gerechtigkeit gegen seinesgleichen, während die Sklavenmoral "das Mitleiden, die gefällige hülfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit" begünstigt. Sklavenmoral ist in Nietzsches Augen "wesentlich Nützlichkeitsmoral", ihr Nutzen besteht für die Benachteiligten in den Fiktionen von Erlösung, Himmelreich und Gleichheit der Menschen, aber auch in dem Konstrukt der "Seele" oder des neuzeitlichen autonomen Subjektes. Die verneinende Sklavenmoral wird in dem Augenblick schöpferisch, in dem das Ressentiment seine eigenen Werte gebiert, etwa das Ideal der Askese, dem Nietzsche die dritte und letzte Abhandlung seiner "Genealogie der Moral" widmet. Das asketische Ideal ist als Prinzip und Lebensform der Weltverneinung gleichsam der Wille zum Nichts; dennoch hat er für das degenerierte, dekadente Leben die Funktion eines Schutz- und Heilinstinkts: "Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag, – und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! (…) In ihm war das Leiden ausgelegt; die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Thür schloss sich vor allem selbstmörderischen Idealismus zu. Die Auslegung – es ist kein Zweifel – brachte neues Leiden mit sich, tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der Schuld … Aber trotzalledem – der Mensch war gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des ’Ohne-Sinns’, er konnte nunmehr Etwas wollen, – gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Wille selbst war gerettet (V, 411f.)."

Mit der Willensthematik eng verbunden erscheint hier der Begriff der Auslegung. Sie ist die eigentliche Tätigkeit des Willens, so daß Nietzsches Philosophie von neueren Interpreten vor allem als eine Philosophie der Interpretation wahrgenommen wird. Ebenso interpretativ wie die moralisch-metaphysische Haltung verfährt nach Nietzsche auch die wissenschaftliche Weltauffassung, deren logische und mathematische Kategorien sich als nützliche Fiktionen erweisen, um den beständigen Fluß der Realität festzustellen und zu verdinglichen.

Einerseits sind diese Fiktionen "unwahr", insofern ihnen in einer Welt beständigen Werdens nichts entspricht – in der Wirklichkeit gibt es zum Beispiel keine "Identität", sondern nur Ähnlichkeiten –, andererseits sind sie aber notwendige und unhintergehbare Kategorien. Während die naive Interpretation sie noch für bare Münze nimmt, setzt der Nihilismus dort ein, wo man sie zwar als Fiktionen erkannt hat, noch nicht aber deren notwendigen Charakter einsieht und akzeptiert. Der Nihilismus besteht nicht einfach darin, daß man an Gott, moralische Werte oder logische Gesetze nicht mehr glaubt, sondern er beruht auf der Tatsache, daß alle Werte, ordnungs- und sicherheitsstiftenden Theoreme sich selbst entwerten und daß dieser Prozeß notwendig geschieht, weil die Wahrhaftigkeit des moralischen oder die intellektuelle Redlichkeit des rationalen Denkens ihre eigenen Grundlagen entlarven. Solange sich der Mensch bemüht, einen externen moralischen oder erkenntnistheoretischen Standpunkt einzunehmen, von dem aus er die Welt beurteilt, verbleibt er noch innerhalb des Nihilismus. Dessen Überwindung wird erst möglich, wenn der Mensch die Fiktionalität seiner Erkenntnis- und Moralsysteme sowie den metaphorischen Charakter seiner Sprache nicht nur erkennt, sondern auch bejaht.

Insgesamt zeigt der Nihilismus genau jene Struktur, die wir oben als konstitutiv für eine Krise herausgestellt haben: Er folgt aus einer immanenten Entwicklung eines Systems, die dazu führt, daß dieses System in eine Phase eintritt, in welcher sich zwei entgegengesetzte mögliche Auswege in einen neuen Zustand ergeben, nämlich entweder die Verneinung und das Zerbrechen angesichts der Entwertung aller Werte oder die emphatische Zustimmung.

Neben dieser existenziellen Dimension hat er noch eine inhaltliche Komponente: die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Wenn es keinen externen Standpunkt, kein Außerhalb der Welt gibt, dann kann sich auch nichts schlechthin Neues ereignen; ein Einbruch des "ganz Anderen", eine Apokalypse als dessen plötzliche Offenbarung, ist somit ausgeschlossen. Im Kapitel "Vom Gesicht und Räthsel" im "Zarathustra" findet sich die berühmte Stelle, an der Zarathustra einem Zwerg seinen "abgründlichen Gedanken" erklärt. Trotz ihres gleichnishaften Charakters verfährt sie durchaus argumentativ: "Von diesem Thorwege Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwärts: hinter uns liegt eine Ewigkeit. Muss nicht, was laufen kann von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muß nicht, was geschehen kann von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein? Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muß auch dieser Thorweg nicht schon – dagewesen sein? Und sind nicht solchermaassen alle Dinge verknotet, dass dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? Also – sich selber noch? Denn, was laufen kann von allen Dingen: auch in dieser langen Gasse hinaus – muss es einmal noch laufen!"

Die zahlreichen Nachlaßaufzeichnungen zum Problem der ewigen Wiederkehr zeigen aufgrund ihrer physikalisch-kosmologischen Argumentation, daß eine Deutung der Wiederkunftslehre als ethisches Postulat ("Lebe so, daß du deine ewige Wiederkehr bejahen könntest") oder als "In-der-Welt-sein des Übermenschen" zu kurz greifen. Nicht der Übermensch ist das Primäre, dem als Seinsweise die ewige Wiederkehr zukommt, sondern umgekehrt: Die ewige Wiederkehr des Gleichen wird zunächst erfahren und erfordert anschließend den Übermenschen, der imstande ist, sie auszuhalten. Ein physikalisch-kosmologisches Verständnis der ewigen Wiederkehr ist also von Nietzsche durchaus intendiert; und zeitweise plante er sogar ein Studium der Physik, um seine Intuition wissenschaftlich belegen zu können.

Die Identität von Dingen und Ereignissen, also nach Nietzsche letztlich Quanten des Willens zur Macht, kann nicht innerweltlich aufgewiesen, sondern nur für Wiederholungen in anderen, bzw. allen anderen, Weltphasen angenommen werden und wird mit der Endlichkeit der Gesamtkraft bzw. der Undenkbarkeit einer unendlichen Kraft begründet. Ungeachtet ihrer Übersetzbarkeit in eine physikalische Terminologie handelt es sich um eine kosmologische Spekulation, die nicht empirisch ausgewiesen werden kann, weil dazu der von Nietzsche abgelehnte absolute Standpunkt notwendig wäre. Nietzsches Wiederkunftslehre bedarf eines solchen externen Standpunktes jedoch gar nicht, sondern ergibt sich gerade aus der Immanenz jeder Beobachterposition. Wenn es nur Immanenz und immanente Perspektiven gibt, dann ist etwas schlechthin Neues undenkbar, denn dieses würde den Einbruch einer Transzendenz voraussetzen.

Nietzsches Krisendiagnose ist bis heute aktuell

In diesem Sinne einer Wiederkehr des Gleichen als Immanentem kann der Wiederkunftsgedanke vertreten werden, ohne daß eine logisch fragwürdige und externe Überprüfbarkeit verlangende Wiederkehr des Identischen in Anspruch genommen werden muß. Die Tatsache, daß der Gedanke der ewigen Wiederkehr im "Zarathustra" in gleichnishafter Form, als "Gesicht und Räthsel" vorgetragen wird und daß Nietzsche selbst stets seine intuitive Erfahrung betont, widerspricht seinen Versuchen einer physikalisch-kosmologischen Ausdeutung nicht, da für Nietzsche aufgrund des Immanenzprinzips auch naturwissenschaftliche Theorien nur Interpretationen sind, die im Prinzip keinen anderen Status haben als poetische Intuitionen.

Daher ist auch der Gedanke der ewigen Wiederkehr eine Intuition Nietzsche-Zarathustras. Da sie die Erscheinungsweise der reinen Immanenz darstellt, ist sie die inhaltliche Seite des Nihilismus. Weil auch die Erfahrung des Nihilismus ewig wiederkehrt, die einzelnen Quanten des Willen zur Macht ewig Werte setzen und ewig als nichtig erkennen, wird durch das Prinzip der Wiederkehr auch die Welt insgesamt und in jedem ihrer wiederkehrenden Zyklen krisenhaft.

Gleichzeitig stellt die Wiederkunftslehre jedoch auch die Überwindung der kosmischen Krise dar, insofern ihre Akzeptanz den Ausweg aus dem Nihilismus bedeutet. Wenn Nietzsches Grundproblem, die Möglichkeit von Leben und Erkennen unter den Bedingungen reiner Diesseitigkeit, zugleich die Grunderfahrung der Moderne darstellt, dann ist seine Krisendiagnose auch heute noch von unerhörter Aktualität.

 

Baal Müller hat Germanistik und Philosophie studiert und arbeitet zur Zeit an seiner Promotion über Stefan George. Er lebt in München.


 
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