© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/00 25. August 2000

 
Der Wille zum Sinn
Gedanken zum Briefwechsel zwischen Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck
Richard Niedermeier

Briefe eines Genies verlangen nach einem kongenialen Empfänger, der an dessen geistigen Bewegungen Anteil nimmt und ihm Impulse zurückgibt. Ida Overbeck besaß diese Kongenialität sicher nicht, aber über die geistigen Kapazitäten ihres Mannes Franz, des Baseler Ordinarius für Neues Testament und alte Kirchengeschichte, läßt sich zumindest bis heute trefflich streiten. Der Nietzsche-Forscher Walter Kaufmann stellt bei Overbeck eine "professorale und pedantische Art" fest, die sich lieber in alte Dokumente vergraben habe, als mit einem großen gedanklichen Wurf ans Licht der Öffentlichkeit zu treten, während Friedrich Wilhelm Graf, einer der besten Kenner der neueren Theologiegeschichte, den "brillanten Philologen" und bemerkenswerten "Antitheologen" würdigt, der lange vor Nietzsches "Gott-ist-tot-Extatik" die "prinzipielle Unmöglichkeit des Christseins in der Moderne" gelehrt habe.

Tatsächlich war Overbeck alles andere als ein biederer Theologieprofessor. Überzeugt von einer tiefen Kluft zwischen der zeitgenössischen Theologie und der Person Jesu betrieb er Kirchengeschichte als rein profanes Fach und bekannte sich zum Agnostizismus. Diese Kirchen- und Religionskritik brachte ihn natürlich Nietzsche nahe, der hinreichende Grund für diese langjährige und intensive Freundschaft war sie wohl nicht.

Nietzsche lernte Overbeck in Basel kennen, als er seinen Lehrstuhl für Altphilologie übernahm. Beide wohnten Wand an Wand in der Wohnung des Ehepaares Baumann-Reisch, kurz "Baumann-Höhle" genannt. Noch in den ersten Briefen an Overbeck aus den Jahren 1873 bewahrt Nietzsche eine sentimentale Erinnerung an diese Zeit: "Waffen- und Wandnachbarn" seien sie gewesen, "greuliches Mord- und Raubgethier" für alle Außenstehenden, aber "friedfertige und brave Uhlen" im Umgang miteinander; jedenfalls gar "seltsame Käuze" (31.12.1873). Das ist natürlich Studentenromantik des noch jungen Professors, aber sie erfüllt doch einen tieferen Zweck: "Wir wollen uns gut u. treu bleiben ..." Die Erinnerung an das Gewesene soll die Freundschaft für die Zukunft sichern.

Treu und zuverlässig war er denn auch, dieser Franz Overbeck. All die Jahre hindurch regelt er Nietzsches mitunter desolate Finanzen, bewahrt ihn dabei vor mancher Dummheit, etwa seine Ersparnisse in das zum Scheitern verurteilte Paraguay-Projekt seines Schwagers zu stecken. Er versorgt ihn mit Literatur und Kirchenväterzitaten, hält die wenn auch spärlichen Kontakte zur Baseler Universität, namentlich zu Burckhardt aufrecht, an dessen Meinung Nietzsche soviel gelegen war.

Vor allem aber schenkt er ihm Gehör, unbedingtes Vertrauen und Zuneigung. Overbeck ist Nietzsches Brücke zur Welt, vermittelt ihm jenes Minimum an Lebenssicherheit, das Nietzsche, der zeitvergessen ("als ob die Jahrhunderte ein Nichts wären") seinen Gedanken nachgeht (November 1880), selbst nicht besitzt. "Ihr seid mir beide noch der letzte Fußbreit sicheren Grundes", wird er nach dem Desaster um Lou Salomé, Overbecks Ehefrau darin einschließend, sagen. "Mitten im Leben war ich vom guten Overbeck umgeben", resümiert Nietzsche daher schon in einem Brief von 1879 und deutet zugleich die schreckliche Alternative an, die ein Ausbleiben der "Wohltaten" Overbecks für ihn gehabt hätte: mors, den Tod.

Der Abgrund nicht allein des physischen Todes, sondern auch der der Vereinsamung und des Mißverstandenwerdens, ist das Ambiente seines Lebens. Da ist zunächst einmal die Krankheit. Nietzsches Briefe beschreiben einen modernen Schmerzensmann, gepeinigt von der zunehmenden Erblindung der Augen und unsäglichen Kopfschmerzen, ja von einem Aufruhr des ganzen Körpers. Oft lesen sie sich wie ein Krankenbulletin, und Nietzsche entschuldigt sich dann bei Overbeck, daß er ihn zu sehr mit seinen Krankengeschichten traktiert habe.

Krankheit ist für Nietzsche aber nicht bloß unmittelbares körperliches Leiden; er hat den frühen Tod seines an einer Gehirnerkrankung leidenden Vaters vor Augen. Die Aussicht auf ein ähnliches Schicksal malträtiert ihn. "Man trägt schwer am Leben..." und "hilf mir, guter Freund", solche SOS-Rufe begegnen im Briefwechsel immer wieder, verbunden mit erschreckenden Anzeichen des Lebensüberdrusses: "Ich habe mich so satt ..." (25.9.1877). Ein Pistolenlauf ist ihm "eine Quelle relativ angenehmer Gedanken"; und rückblickend auf sein Leben: "Mein ganzes Leben hat sich vor meinen Blicken zersetzt" (10.2.1883).

Doch Nietzsche wirkt dieser Atomisierung seines Lebens entgegen, nimmt seine Krankheit nicht einfach passiv hin. Natürlich kann man in den zahllosen Orts- und Wohnungswechseln nach seinem Ausscheiden aus der Universitätspflicht eine ständige Flucht vor sich selbst sehen. Aber es steckt doch mehr dahinter: Nietzsche ist überzeugt von der Notwendigkeit einer harmonischen Einbindung des Menschen in die Natur und ihrer heilenden Wirkung. So fühlt er sich im Engadin in seinem "Element, ganz wundersam" und empfindet eine tiefe Verwandtschaft mit dieser Natur (23.6.1879). Das ist nicht nur Erbschaft des romantischen Naturempfindens, sondern eine ganz bewußte und für die Gesundheit nutzbar gemachte Suche nach Ganzheit. Die Einheit von Mensch und Natur fußt auf einer von Leib und Geist im Menschen selbst: "Ich bin ... nicht Geist und nicht Körper, sondern etwas drittes. Ich leide immer am Ganzen und im Ganzen" (31.12.1882). Dies läßt ihn zunehmend nach ganzheitlichen Wegen der Heilung suchen, die den Menschen als ein komplexes Gebilde wechselseitig sich beeinflussender Strukturen behandeln.

Nietzsche betrachtet seine Krankheit nicht als ein blindes Naturverhängnis, sondern als einen verstehbaren Zustand und sucht nach alternativen Formen der Therapie, welche die für das 19. Jahrhundert so typische Entfremdung vom eigenen Körper überwinden sollen. Es scheint, als ob der zunehmende Verfall seines Körpers bei ihm umschlägt in eine zunehmende geistige Fruchtbarkeit.

Nahezu nebeneinander stehen das schreckliche Leiden und eine Manie des Schaffens. Als er den ersten Teil des "Zarathustra" vollendet hat, meldet er, aus einem "Abgrund von Gefühlen ziemlich senkrecht in die Höhe erhoben" worden zu sein (10.2.1883). Er habe "neues Land entdeckt" und die "Fröhlichkeit des Erkennens" nicht verloren, schreibt er nach Beendigung des dritten Teils (6.12.1883).

Überhaupt stellt sich Nietzsche die Erscheinungsfolge seiner Werke als ein mächtiges Vorwärts- und Höherschreiten vor: immer klarer wird das Ziel; ungeahnt, unvorstellbar die Aufgabe, ebenso ungeahnt, unvorstellbar und noch nie dagewesen deren Lösung. Nietzsche begreift sein Leben als eine Sendung; und die Krankheit ist der Preis, das Mittel zur Selbsterziehung. Ausharren, Geduld haben, sich selbst überwinden und den Weg zu Ende gehen – dies wiegt mehr als die todestrüben Gedanken.

Ähnlich wie die Krankheit hat Nietzsche auch die Einsamkeit zunehmend ambivalent gedacht. Nicht ein Mensch habe ihn entdeckt, nötig gehabt oder ihn geliebt, so 1887 der traurige Rückblick auf die vergangenen 15 Jahre; eine "schmerzensüberreiche Zeit", ohne den Trost "durch echte Liebe" (12.2.1887). Kaum zu zählen die vielen Klagen über die Einsamkeit, die als ein "Hundeleben" empfunden wird. Dennoch setzt sich eine andere Sicht durch: "Die Morgenröte" nennt er ein Buch der höchster Einsamkeit, den "Zarathustra" aus all diesen Entbehrungen der Liebe gewachsen. "Ungestörtheit, Abseitigkeit, Fremdheit" "Problemen hinunter" zu gelangen, seine Bestimmung als "Mensch der Tiefe" zu erfüllen (14.4.1887). So wird die Einsamkeit zu einem angestrebten Ideal des philosophus radicalis, der von allem frei sein muß.

Die Klagen des Mißverstandenwerdens haben in den Briefen im wesentlichen zwei Zielrichtungen: die geistige Situation in Deutschland und seine eigene Familie, namentlich seine Schwester. Sie, die nach seinem Tod seinen Nachlaß verwalten und das Nietzsche-Bild auf Jahrzehnte prägen – heute weiß man: manipulieren – wird, nennt er eine "bösartige Person", fühlt sich aber zugleich nach dem schlimmen Zerwürfnis mit ihr von 1884 befreit und unabhängig. Nietzsche kennt und mißbilligt ihre engen Kontakte zu deutschnationalen und antisemitischen Kreisen, die – ein Mißbrauch seiner Person wie seines Werkes ("fast Jedermann [hat sich] mit irgendeiner Absurdität an mir vergriffen") – ihn, wo nicht totschweigen, so vereinnahmen wollen. Leiden an Deutschland, dessen "unverantwortliche Rasse" alle "großen Malheurs der Kultur auf dem Gewissen" habe (18.10.1888), so könnte man dieses Kapitel überschreiben. Es ist nicht allein der Antisemitismus, das Ausbleiben einer Wirkung in seinem Heimatland, die Flucht der deutschen Philosophie in den Idealismus, die Nietzsche zu diesem Urteil treibt. Deutschland ist als ganzes in einem negativen Sinne unzeitgemäß; es hat in den entscheidenden Geschichtsmomenten "stets etwas Anderes im Kopf" und denkt gegenwärtig engstirnig an ein "Reich", statt an eine durch die Umwertung aller Werte neugefaßte europäische Kultur.

Doch, wenn auch spät, gelingt auch hier Nietzsche der Umschlag ins Positive: In einem Brief vom 12.10.1886 wünscht er sich ein Verstandenwerden erst nach seinem Tode; er befürchtet gar, "zu deutlich" geworden zu sein, "sich verraten" zu haben. Nietzsche will vorerst nur "erzieherische Prämissen" geben, um sich dann seine Leser "zu züchten", "die meine Probleme sehen dürfen, ohne an ihnen zu zerbrechen".

Ähnlich wie Plato deutet Nietzsche in seinen Briefen eine Art ungeschriebener, esoterischer Lehre an, die freilich nicht nur mit dem unterschiedlichen Verständnis der Leser zu tun hat, sondern auch mit der Unabgeschlossenheit seines eigenen geistigen Entwicklungsganges. Noch die "Genealogie" denkt Nietzsche als ein "Vorspiel seiner Philosophie" (4.1.1888), und als er am "Antichrist" und an der "Götzendämmerung" arbeitet, glaubt er sich nur in der Nähe eines großen Zieles. Allein Lou Salomé fand er vorbereitet für den "fast verschwiegenen Teil" seiner Philosophie" (10.11.1882).

Auf Nietzsche liegt daher wie auf seinem Zarathustra der Schleier des Mystischen. So kompensiert Nietzsche, obwohl Atheist, sein leidvolles Schicksal durch eine fast religiöse Beziehung zu seinem Lebensziel. Die Idee einer ewigen Wiederkehr spiegelt nicht nur das "Ja" zum eigenen Schicksal wider, sondern mißt diesem eine Heilsbedeutung bei. Es steckt ein ungeheuerer Gestaltungswille hinter Nietzsches Versuchen, sein Leiden zu bewältigen. Aus den atomischen Zertrümmerungen seines Lebens will er wieder ein Sinnganzes schmieden. Dazu muß er, der "Erbe von Jahrtausenden" (23.2.1887) eben diese Erbschaft in sich selbst überwinden. Ein gewaltig-gewalttätiger Versuch der geistigen Selbsterschaffung also.

Am Ende, kurz vor dem Zusammenbruch scheint ihm das in seinen Augen gelungen: Alles ist leicht geworden; er sieht nur Freundlichkeit, Zuneigung und Interesse für ihn und seine Sache; sein Leben, ja die ganze Welt scheint nach seinem Willen geformt. So unterschreibt er den letzten Brief an Overbeck mit "Dionysos" – wohl weniger Ausdruck eines Größenwahns als Indiz dafür, daß sein selbsterzeugter Lebensoptimismus alles Leiden verschlungen hat.

Die Stunde höchster Fiktion ist aber auch die Stunde des endgültigen Zusammenbruches. Dann holt ihn Overbeck nach Basel zurück zur Einlieferung in die psychiatrische Klinik.

Friedrich Nietzsche / Franz und Ida Overbeck: Briefwechsel, hrsg. von Katrin Meyer und Barbara von Reibnitz. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2000, geb., 495 Seiten, 78 Mark

 

Richard Niedermeier lebt als freier Publizist in Nürnberg.


 
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