© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/00 08. September 2000


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Lehrveranstaltung
Karl Heinzen

Der Phantasie unserer Gesellschaft sind keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, ein Signal gegen jene zu setzen, die sie sich als Gefahr für ihr Wohlergehen zurechtgelegt haben. Die Verfolgung Andersdenkender ausschließlich der öffentlichen Hand zu überlassen, hieße, leichtfertig die Chance auszuschlagen, die der Rechtsextremismus zur Mobilisierung eines Gemeinschaftsbewußtseins über alle ethnischen, politischen und sozialen Zerklüftungen in unserem Land hinweg bietet. Wer das Gewaltmonopol dieses Staates in Frage stellt, soll sich vielen Ge- walten ausgesetzt sehen, die ihm in den Arm fallen. Dabei gilt es insbe- sondere auch an all jene niedrigen Instinkte zu appellieren, auf die eigentlich der öffentliche Feind bauen zu können hofft.

Hier ist übrigens schon sehr viel erreicht worden. Ein gutes Stück des Weges bis zur Errichtung von Disziplinierungslagern zum Schutze der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung ist zurückgelegt. Die Berliner Republik ist selbstbewußt genug, daß sie ihre Menschenrechtsverletzungen nicht mehr verstecken muß. Das Vertrauen des Auslands in die Zuverlässigkeit der Bundesregierung wird gestärkt, wenn sie sich auch in ihrer Innenpolitik als Partner erweist.

Die deutsche Öffentlichkeit wiederum scheint seit langem darauf gewartet zu haben, daß die Staatssouveränität endlich einmal von den Fesseln ihrer Prinzipien befreit und damit anfaßbar wird, zumal es nur eine Minderheit ist, die sie zu spüren bekommt. Wer hier als Politiker die kühnsten Vorstöße auf das transrechtsstaatliche Terrain wagt, kann sich gegenüber der Wahlbevölkerung nachhaltig als Verfassungshüter profilieren.

Manche wollen oder können jedoch nicht soweit gehen und übernehmen lediglich die Bestimmung des Feindes und die Wortwahl in seiner Beschreibung, empfehlen aber seine Ausrottung im Rahmen bestehender Gesetze. Ihr Beitrag ist deshalb keineswegs geringzuschätzen, erst sie lassen das, was sonst als Kampagne verdächtigt werden könnte, zu einer Lehrveranstaltung reifen.

Der Bürger soll darauf vorbereitet werden, daß er den großen Um- brüchen unserer Zeit wie etwa der Währungsumstellung oder der ethnischen Schwerpunktverlagerung mit vorsichtig abwägendem Urteil gegenüberzutreten hat: Dies ist das Lernziel des Regierungslagers von PDS bis FDP. Die Menschen sollen darüber hinaus begreifen, daß Korruption nicht das ausschlaggebende Kriterium sein kann, um Parteien in einer Demokratie zu bewerten: Dies ist die naturgemäß bescheidenere Botschaft der Union. Der eigentliche Sinn stellt sich aber, wie üblich, erst abseits aller bewußten Intentionen ein: Da nur noch wenige aus eigenem Erleben wissen, was sie am Totalitarismus zu fürchten haben, ist es hilfreich, daß zu Beginn des 21. Jahrhunderts wenigstens die Möglichkeit einer schwarz-rot-goldenen Barbarei kurz aufscheint.


 
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