© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/00 08. September 2000

 
Kolumne
Plebiszit
von Heinrich Lummer

Um den erkennbaren Willen des Volkes zu ermitteln, ist man heute nicht mehr auf Wahlen angewiesen. Diese vermitteln ohnehin keine Erkenntnisse über die Meinungsströmungen zu Einzelfragen, sondern sind mit Abstimmungen über ein Gesamtprogramm der Partei seiner Wahl einverstanden. Deshalb muß er abwägen, was hier und heute besonders wichtig für ihn ist. Er wählt möglicherweise die SPD wegen ihrer Sozialpolitik, obwohl er ihre Ausländerpolitik nicht mag. Wahlentscheidungen sind Entscheidungen über ein Gesamtprogramm.

Beispielsweise ist die Abschaffung der D-Mark gegen den erkennbaren und erklärten Willen der Mehrheit der Deutschen erfolgt. Eine umfassende und engagierte Überzeugungsarbeit hat nicht stattgefunden. Hat sie deshalb nicht stattgefunden, weil es keine ausreichend überzeugenden Argumente gab? Die Berücksichtigung des Volkswillens wäre in diesem Falle möglich gewesen, ohne daß dem deutschen Volke besonderer Schaden erwachsen wäre. Die Regierung hat sich ohne Not vom Volkswillen entfernt und sich darüber hinweggesetzt.

Der Hinweis, daß die Verfassung keine Volksentscheide kenne, verfängt nicht. Es geht darum, die Souveränität des Volkes zu achten, wenn immer das möglich und sinnvoll erscheint, und nur dann davon abzuweichen, wenn es unabweisbar nötig ist. Dies mag der aus schlechtem Gewissen entstandene Grund für Helmut Kohl gewesen sein, die Frage der Einführung des Euro und die Abschaffung der D-Mark zu einer Frage von Krieg und Frieden zu erheben. Das war ein Fehler.

Wenn Bund und Länder nicht nach diesem Grundsatz verfahren, ergibt sich zudem die Gefahr der Wahlenthaltung durch Frustration, der Radikalisierung der Ränder, der Politikverdrossenheit und der Bildung von Parteien, die sich, wie Bürgerinitiativen, speziellen politischen Interessen widmen. Das Entstehen der Partei der Grünen ist auf einen solchen Sachverhalt zurückzuführen. Sie sind als Bürgerinitiative ohne Gesamtprogramm entstanden und haben sich erst später zu einer wirklichen Partei mit Gesamtprogramm entwickelt. Bei den Republikanern verhält es sich ähnlich. Auch sie entstanden aus der unzureichenden Bereitschaft der etablierten Parteien, die ausländerpolitischen Auffassungen der Bevölkerung zu berücksichtigen. Später entwickelten sie ein Gesamtprogramm, aber der Schwerpunkt blieb nach wie vor bei den Fragen der inneren Sicherheit und der Ausländerpolitik. Eine Verstärkung der plebiszitären Komponente liegt insofern darin, daß die Regierungen den erkennbaren Willen des Volkes stärker berücksichtigen.

 

Heinrich Lummer, Berliner Innensenator a.D., war bis 1998 Bundestagsabgeordneter der CDU.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen