© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/00 08. September 2000

 
Die Spaßgesellschaft vergreist
Eine moderne Einwanderungs- und Familienpolitik ist überfällig
Klaus Zeitler

Im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen wurde im Juni 2000 eine Weltkonferenz über soziale Folgen der Globalisierung und die Auswirkungen eines weltweit zu beobachtenden Bevölkerungsrückganges veranstaltet. Betroffen hiervon sind besonders die westeuropäischen Industriestaaten, und hier im besonderen Deutschland. Wenn in Europa heute mehr Alte über 60 als Kinder unter 14 Jahre leben, ist es darauf zurückzuführen, daß hier die Reproduktionsrate von 2,1 Prozent pro Frau – die Zahl der Geburten, die nötig sind, um eine menschliche Population wenigstens konstant zu halten – unterschritten wird.

In der Türkei ist die Gebärfreudigkeit doppelt so hoch wie bei deutschen Frauen mit der Folge, daß dieses Land mit heute 65 Millionen schon in 20 Jahren etwa 100 Millionen Einwohner haben wird, während in europäischen Staaten dramatische Bevölkerungsverluste eintreten. Spanische und griechische Frauen bekommen heute nur noch 1,5 Kinder in ihrem Leben. Deutschlands Vergleichszahl lautet 1,4. In Italien, Ungarn, Portugal und der Schweiz sind die Zahlen noch ungünstiger. In all Ländern nimmt die bodenständige Bevölkerung also rasch ab. Immer mehr alte Leute stehen immer weniger jungen Menschen gegenüber – ein Horrorszenario, das den Zusammenbruch der sozialen Sicherungs- und Finanzierungssysteme befürchten läßt.

Für Deutschland hat der Bevölkerungswissenschaftler der Universität Bamberg, Josef Schmid, bereits 1999 festgestellt: "Der Nachwuchs reicht nicht, um die wachsende Altenbevölkerung quantitativ auszugleichen. Das macht die Alterspyramide kopflastig und im weiteren Fortgang aus ihr einen Koloß auf tönernen Füßen. Mit der Folge, daß in Deutschland die derzeit 82 Millionen Menschen in 30 Jahren auf 70 Millionen , in 50 Jahren sogar auf 60 Millionen Einwohner schrumpfen. Rechnet man aufgrund der gegenwärtigen Geburtenrate noch weiter, wäre man um das Jahr 2080 bei etwa 40 Millionen Einwohner Deutschlands angekommen."

Die Hoffnung der Politiker, diese bevölkerungspolitischen Probleme durch Einwanderung aus Südosteuropa oder durch Moslems aus den Ländern Nordafrikas oder des Mittleren Ostens, wo die Geburtenrate noch weiter ansteigt, zu lösen, trügt. Zur Verjüngung und Stabilisierung der Bevölkerungszahl rät uns Deutschen der Direktor der UN-Bevölkerungsabteilung, J. Chamie, in einer UN-Studie zwar allen Ernstes zu einer Einwanderung von bis zu 18 Millionen Menschen aus nichteuropäischen Ländern innerhalb der nächsten Jahre. Die rot-grüne Bundesregierung geht davon aus, daß Deutschland mindestens 500.000 Migranten jährlich brauche. Bundesminister Schily (SPD) rechnete 1999 mit 200.000 Einbürgerungenplus 100.000 Kindern ausländischer Eltern, die hier geboren werden und deshalb automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung Beck (Grüne) verlangt aufgrund des veränderten Staatsbürgerrechtes eine Million Einbürgerungen jährlich. Ein solcher Einwanderungsschub würde unser Land destabilisieren, ethnische und multikulturelle Konflikte ungeahnten Ausmaßes wären die Folge. Auch wenn die Deutschen gegenwärtig immer älter und immer weniger werden – wir können nicht ohne Rücksicht auf ethnische und kulturelle Unterschiede wahllos den Bevölkerungsüberschuß der Dritten Welt aufnehmen.

Wenn ein "verändertes Fortpflanzungsverhalten" in Deutschland die Zahl der Einwohner und Erwerbstätigen bereits reduziert, sind das Ergebnisse einer von den Herrschenden gewollten Politik. Eine Spaß- und Konsumgesellschaft, die es bewußt hinnimmt, daß in Deutschland jährlich mindestens 150.000 Kinder abgetrieben werden, hat die Folgen dieser Umwertung aller Werte im Zuge eines modernen Zeitgeistes zu tragen. Wer staatlich bewußt Lesben- und Schwulenehen, ungezügelte Einwanderung und Selbstverwirklichung nach Zeitgeist fördert, die kinderreiche Familie dagegen abgaben- und steuerrechtlich bestraft, darf sich über die Ergebnisse seiner Familienpolitik nicht wundem.

Der steuerliche Freibetrag für Kinderbetreuung ist von Rot-Grün gerade auf 2.000 Mark halbiert worden. Die Erhöhung des Kindergeldes wird durch andere Abgaben, insbesondere die Ökosteuer aufgefressen. Eichels Steuerreform beschert 2005 einem Single über 1.000 Mark netto mehr als einem Vater oder einer Mutter. Diese Politik geht immer noch davon aus: Möglichst wenige, mucksmäuschenstille Kinder sollen vielen doppelt verdienenden Partnern und Pärchen hohe Altersrenten sichern. Eine Rechnung, über die sich Adam Riese tot gelacht hätte.

Kein verantwortlicher Politiker wagt zu sagen, daß Doppelberufstätigkeit in einer Lebensgemeinschaft ohne Kinder konsequent zum Verlust jedes öffentlichen Rentenanspruchs führen muß. Es sei denn, die maroden Rentenkassen erhalten aus Steuermitteln weitere nicht bezahlbare Milliarden. Denn es ist eben immer noch so: Die Renten von heute zahlen die Kinder und Enkel von morgen. Wer heute Rentenbeiträge leistet, finanziert nicht sein Alter sondern die Lebensverhältnisse seiner Eltern.

Erst wenn in den Köpfen der heutigen Kranken-, Renten- und Pflegeversicherungszahler die Erkenntnis Eingang gefunden hat, daß jedes öffentliche Versichertensystem in erster Linie auf dem Generationenvertrag beruht, wird sich hier etwas ändern.

All das ist ja nicht nur ein deutsches oder überwiegend europäisches Problem. Die Überalterung wird nach Voraussagen der UN-Experten als Folge des Globalisierungsprozesses bald auch die Dritte Welt einholen. Die Völker Mittel- und Zentralafrikas, aber auch Asiens altern tendenziell sogar schneller als die industriellen Länder Europas. In China, wo staatliche Maßnahmen zur Förderung der Einkinderehe Wirkung zeigen, verdoppelt sich die Zahl der 65jährigen in einem Menschenalter. Es ist deshalb zu erwarten, daß sich noch in diesem Jahrhundert nicht nur in Deutschland und Europa erhebliche Probleme aus einer Überalterung der Weltbevölkerung ergeben werden.

In Deutschland hat sich die Diskussion über eine zunehmende Vergreisung unserer Gesellschaft im wesentlichen auf das Problem der Finanzierung unserer Renten und des Gesundheitswesens verengt. Schon heute muß ein Viertel aller Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung aus Steuermitteln finanziert werden. Die gesetzliche Krankenversicherung wird bis zum Jahr 2040 beispielsweise zehn Millionen junge und vergleichsweise gesunde Beitragszahler verlieren. Demgegenüber stehen steigende Gesundheitsausgaben von immer mehr Mitgliedern. Die Folge wird die Einschränkung in der medizinischen Versorgung für alle sein, denn die solidarisch finanzierte Krankenversicherung ist in Deutschland bereits am Ende, zumal durch Zuwanderung, hohe Arbeitslosigkeit und Mißmanagement die Risiken laufend steigen. Die Hoffnung, Fehlentwicklungen durch Steuermittel ausgleichen zu können, wird sich nicht erfüllen, denn die öffentlichen Kassen sind leer. Die weltweite Globalisierung mit Verlagerung von Arbeit in Billiglohnländer und die bewußt in Kauf genommene Schwächung nationaler Wirtschaften wird zu schwindenden Steuereinnahmen führen, die eine Rückführung der sozialen Ausgaben unumgänglich machen.

Nur eine wirksame Familienpolitik und ein Überdenken der bisherigen Einwanderungspolitik verhindern das steil ansteigende Defizit zur Finanzierung der sozialen Folgen des Überalterungsproblems. Untersuchungen der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa) zeigen, daß eine Verdoppelung der öffentlichen Verschuldung zur Lösung dieser immensen Kosten kein Ausweg ist.

Eine kluge und zielgenau abgestimmte Einwanderungspolitik, die – wie etwa in den USA, in Kanada oder Australien – junge, leistungsfähige und gut ausgebildete Menschen in das Land bringt, ist durchaus ein Weg. Integrationsfähigkeit und Wille zur Eingliederung der Einwanderer in unsere Gesellschaft ist dann aber eine unabdingbare Voraussetzung. Nur so kann verhindert werden, daß Deutsche etwa in Frankfurt, Stuttgart und Berlin in 30 Jahren gegenüber den dort lebenden Ausländern in der Minderheit sind. Das bedeutet, daß es in einzelnen Regionen Deutschlands zu Zuständen kommt, wie sie heute für französische Großstädte wie Paris, Lyon und Marseille charakteristisch sind: bürgerkriegsähnliche Verhältnisse, mit Lebenseinstellungen und Handlungsstrategien sich heimatlos fühlender junger Menschen, die erheblichen sozialen Sprengstoff beinhalten.

Für Deutschland heißt dies aber auch: Sofortige Korrektur der unzulänglichen Familienpolitik. In unserem Land muß die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erheblich verbessert, die Erziehungskompetenz der Eltern gestärkt werden. Ein Familiengeld sollte eingeführt werden, das – je nach Einkommenslage der Eltern – bis zu 1.000 Mark monatlich je Kind beträgt. Bisherige staatliche Leistungen wie Kindergeld, Erziehungsgeld und Wohngeld werden in diesem Betrag zusammenfaßt. Frankreich hat durch eine ähnlich großzügige Familienförderung gezeigt, daß so der Geburtenrückgang gestoppt und die Schlagseite im Gleichgewicht der Generationen aufzuhalten ist. Kostenlose Kindergartenplätze und Ganztagsschulen, wie sie in Schweden und vielen anderen Industrieländern normal sind, müssen unsere verkrusteten Kultusbürokratien umgehend sicherstellen.

Eine solche Familien- und Bevölkerungspolitik muß von dem Vorurteil befreit werden, rassistisch motiviert zu sein, nur weil es unter dem nationalsozialistischen Regime auch aus diesen Gründen Mutterkreuze für Mehrkinderehen gab.

In einem demokratischen Land darf man erwarten, daß die Verantwortung für die zukünftige Generation ernst genommen wird. Auch von Politikern und Journalisten, die ohne eigene Kinder oder Enkel großgezogen zu haben, regelmäßig glauben, ihre eigenen zweifelhaften Rezepte als Regeln für das soziale Zusammenleben verkünden zu müssen.

Wird hier nicht umgedacht, bedeutet das: Unsere Spaßgesellschaft vergreist. Am Ende steht die kinderfreie Gesellschaft: Für nachfolgende Generationen – ein kurzes und armseliges Vergnügen.

 

Dr. Klaus Zeitler war von 1968 bis 1990 SPD-Obürgermeister von Würzburg. Kürzlich hat er zusammen mit Manfred Ritter das Buch "Armut durch Globalisierung – Wohlstand durch Regionalisierung" (Leopold Stocker Verlag, Graz 2000) veröffentlicht.


 
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