© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/00 08. September 2000

 
Der fatale Hang zum Träumen
von Franz Uhle-Wettler

Wer am Vorabend des zehnten Jahrestag der Wiedervereinigung die Geschichte sowie die Gegenwart der Deutschen überblickt, um dann etwas in die Zukunft zu spekulieren, wird vielleicht als erstes auf das stoßen, was Napoleon in die Worte kleidete: "Die Geographie bestimmt das Schicksal der Völker." Die Deutschen lebten und leben im Herzen Europas und dort zudem ohne von der Natur geschützte starke Grenzen. Deshalb waren wir stets nicht nur dem Einfluß, sondern auch dem Zugriff der Nachbarn ausgesetzt. Das hat vielfältige Folgen gehabt. Seit dem hohen Mittelalter ist das Reich Stück für Stück kleiner geworden. Noch 1919 waren unsere Grenzen im Norden, waren Schleswig und Holstein umstritten. Im Westen gingen noch 1919 heute belgische und französische Gebiete verloren, und das Saarland (wenn nicht noch mehr) wurde noch nach dem Zweiten Weltkrieg von Frankreich begehrt. Im Süden waren noch 1866, 1919 und 1938 die Grenzen zu Österreich und zu Südtirol umstritten. Im Osten gingen nach dem Zweiten Weltkrieg riesige Siedlungsgebiete der Deutschen verloren.

Nicht weniger gewichtig waren die geistigen Folgen der deutschen Mittellage. Ein Beispiel: Bis zum Dreißigjährigen Krieg waren die Deutschen auch geistig sowie kulturell souverän. Das ermöglichte ein Geben und Nehmen, bei dem die Deutschen viel, sehr viel zur Kultur Europas beitrugen; Dürer, Kepler und Kopernikus sind nur drei Beispiele unter vielen anderen. Doch dann wurde Deutschland dreißig Jahre lang Schlachtfeld Europas – und dadurch wurde Frankreich nicht nur politische, sondern auch kulturelle Vormacht Deutschlands. Die Parallele zu unserer Zeit ist offensichtlich: Nach dem, was der britische Premierminister 1996 den "Zweiten Dreißigjährigen Krieg" nannte, stehen wir heute wiederum unter vielfältiger Dominanz der Sieger.

Fremden Zugriff auf die Deutschen hätte nur eine starke Reichsgewalt verhindern können. Doch eine solche Gewalt auszubilden, erschwerte ein wichtiger Charakterzug der Deutschen. Wir waren stets ein Volk der Träumer. Schon im Mittelalter haben wir versucht, den herrlichen Traum von der renovatio imperii, von der Wiederherstellung des Römischen Reiches, zu verwirklichen. Derweil schufen sich vor allem Franzosen und Engländer nüchtern eine starke Zentralgewalt – und bald war Frankreich stark genug, mächtig und oft gewaltsam in das Geschick der Deutschen, des Volkes der träumenden "Dichter und Denker" einzugreifen. Und wiederum liegt eine heutige Parallele nahe. Dem Traum der Vereinigten Staaten von Europa opferten die Deutschen ohne gleichwertige Gegenleistung ihre wirtschaftliche und finanzielle Unabhängigkeit.

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Drei Faktoren – die geographische Mittellage, die Träumerei und die Neigung zum Äußersten – haben das Schicksal unseres Volkes mitbestimmt, das sich lange einseitig nur als "Volk der Dichter und Denker" empfand."

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Eng verwandt mit der Träumerei war (und ist?) ein weiterer Charakterzug der Deutschen; war das, was manch einer stolz das "faustische Streben" oder den "deutschen Idealismus" genannt hat, also der Hang zum Hundert- und leider manchmal auch Hundertfünfzigprozentigen. Schon Goethe hat in seinen "Zahmen Xenien" geklagt: "Daß der Deutsche doch alles zum Äußersten treibet." In der Tat: Das Träumen, das Dichten und das Denken kennt keine von der harten Realität gezogenen Grenzen. Allerdings: Als Goethes Faust sich den ersten Worten der Bibel zuwandte, übersetzte er eben nicht: "Am Anfang war das Wort", sondern: "Am Anfang war die Tat." Diese Lehre haben wir allzuoft versäumt. Und auch der deutsche Drang "zum Äußersten" (Goethe) hat heutige Parallelen, etwa die bis zum Äußersten getriebene Euroseligkeit und eine ebenso maßlose Vergangenheitsbewältigung. Die drei genannten Faktoren – die geographische Mittellage, die Träumerei und die Neigung zum Äußersten – haben das Schicksal unseres Volkes mitbestimmt, das sich lange einseitig nur als "Volk der Dichter und Denker" empfand. Heinrich Heine hat die Folgen beschrieben: "Franzosen und Russen gehört das Land / Die See gehört den Briten / Wir aber besitzen im Luftreich des Traums / Die Herrschaft unbestritten."

Doch gerade als Heine diese Zeilen schrieb, trat ein Wandel ein. Bismarck schuf eine handlungsfähige Zentralgewalt, schuf ein starkes Reich. Bezeichnend ist, wie er jene drei Faktoren behandelte. Der deutschen Mittellage wurde er durch eine betont rußlandfreundliche Politik gerecht, die, nicht zufällig, von den deutschen "Dichtern und Denkern" damals und bis heute oft kritisiert wurde. Von deutscher Träumerei und von der Sucht nach dem Hundertprozentigen war nichts zu spüren, als Bismarck Politik kühl und nüchtern als die "Kunst des Möglichen" definierte – und danach handelte. Die Wirkung trat sofort ein. Endlich war Deutschland nicht mehr Amboß, Schlachtfeld Europa, sondern war stark genug, Eingriffe der Nachbarn abzuwehren. Und bald führte Deutschland die Welt in Wissenschaft sowie Technik und war nun auch kulturell souverän – Einfluß gebend und Einfluß nehmend.

Doch das Reich ist in zwei Katastrophen versunken. Wir waren in vielen Feldern erstklassig, aber nicht in der Außenpolitik. Einigen unserer Politiker mag der Hang zum idealistischen Traum, anderen die deutsche Maßlosigkeit im Wege gestanden haben, die Berechtigtes oder wenigstens Verständliches bis ins irrwitzige Hundertfünfzigprozentige übertrieb. Jedenfalls haben wir in zwei Weltkriegen gegen eine unermeßliche Übermacht kämpfen müssen – sicheres Zeichen dafür, daß unsere Außenpolitiker furchtbar versagt haben.

Wenn wir uns mit diesen Gedanken der Gegenwart zuwenden, so sehen wir manches Unerfreuliche. Ein Bismarck ist nicht zu sehen. Ein Grund dafür mag schlicht in dem Aderlaß vergangener Kriege liegen. Vielleicht ist ein zweiter Bismarck 1916 in Verdun, der dritte in Stalingrad gefallen und der vierte deshalb nie geboren worden. Jedenfalls müssen wir uns heute für unsere Außenpolitik mit Kinkels und Fischers begnügen.

Das führt zu der Frage, wie es weitergehen könnte. Bei dieser Überlegung wird es zweckmäßig sein, als erstes einige derjenigen Faktoren zu bedenken, die die Zukunft unseres Volkes gestalten werden.

Da ist einmal die Tatsache, daß die alten deutschen Schwächen und Sünden, wenn es denn welche sind, weiterhin herrschen – amüsanterweise gerade bei denen, die vorgeben, besonders gut aus der Geschichte gelernt zu haben und nun besonders gute Menschen zu sein. Da ist einmal die Neigung zur Träumerei. Sie kennzeichnet weiterhin die deutsche politische Klasse. Typisch ist, wie die unbestrittene und unbe-streitbare Notwendigkeit des engeren, sogar engsten Zusammenrückens der europäischen Völker zur Euroseligkeit hochgetrieben wird, und daß Skepsis gegen die Brüsseler Wirklichkeit oft als rechtsradikal und sogar als Zeichen verfassungsfeindlicher Gesinnung gilt. Darunter leiden natürlich die deutschen Interessen; Beispiele hierfür gibt es zuhauf. Doch gerade das gibt Hoffnung. Kein Volk läßt auf die Dauer seine idealistischen Träume von denen ausnutzen, die derweil kühl ihre Geschäfte besorgen.

Der zweite die deutsche Zukunft gestaltende Faktor: Auch die deutsche Neigung zum Hundert- und gelegentlich Hunderfünfzigprozentigen ist ungebrochen. Sicherlich ist es notwendig, nach den Ursachen der deutschen Katastrophen zu suchen und sich der deutschen Fehler sowie der unter deutschen Fahnen begangenen Untaten zu erinnern. Doch die heutige Vergangenheitsbewältigung erinnert lebhaft an die zitierte Klage Goethes, daß der Deutsche alles zum Äußersten treibe. Sie erinnert ebenso an den Großadmiral von Tirpitz, der von der "Selbstmörderecke" im deutschen Charakter gesprochen hat. Immerhin hatten unsere "Intellektuellen" schon Napoleon als Befreier und buchstäblich als "Gottesgesandten" begrüßt. Das ist heute nicht anders. Wir sollen 1945 durch die Roosevelts, Stalins und Churchills "befreit" worden sein. Richtig: Wir sind auch vom Nationalsozialismus befreit worden. Zudem allerdings auch von vielem, vielem anderen: Vom Memelland, von Ostpreußen, Danzig, von weiteren großen und schönen Provinzen, Millionen sind zudem nicht nur von der Heimat, sondern gleich vom Leben "befreit" worden, weitere Millionen sind für viele Jahre und oft bis zum Tode hinter dem Stacheldraht der Lager verschwunden, und zusätzlich ließe sich vieles andere hier nennen. Wenn viele unserer Politiker und Intellektuellen das Geschehen von 1945 auf eine Befreiung reduzieren, so zeigt sich wohl nur jene Neigung zum Hundertfünfzigprozentigen, die nur einen Aspekt sieht und alles andere und das Leid ungezählter Millionen menschenverachtend ausklammert.

Für die Zukunft unseres Volkes bedrohlicher sind wohl zwei weitere Faktoren. Wir lassen uns geistig und kulturell von anderen, vor allem von den USA beherrschen. Kräfte, die diese Vorherrschaft zu einem fruchtbaren Geben und Nehmen wandeln könnten, sind nicht in Sicht. Doch auch hier dürfte das Sprichwort gelten: "Jeder Krug geht zu Wasser – bis er bricht." Sicher scheint demnach, daß die Dominanz der USA und die Dienstwilligkeit unserer geistigen und kulturellen Klasse enden wird; fraglich ist nur das Wann.

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Es gibt vielen und guten Grund zur Hoffnung. Da ist einmal die schlichte Tatsache, daß der Lärm, der die Straßen und Gassen, die Gazetten und Fernsehschirme füllt, stets nur für den Augenblick bedeutsam ist.

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Der letzte Faktor, der hier zu nennen ist: Das deutsche Volk droht fast auszusterben. Und auch hier treiben wir es wieder "zum Äußersten". Nur einige Regionen Italiens begleiten uns bei dem Versuch, die eigene Geschichte durch Geburtenschluß zu beenden.

Doch trotz dieser Negativa gibt es vielen und guten Grund zur Hoffnung. Da ist einmal die schlichte Tatsache, daß der Lärm, der die Straßen und Gassen, die Gazetten und Fernsehschirme füllt, stets nur für den Augenblick bedeutsam ist. Schon Nietzsche hat es gewußt: Was wenig Gewicht hat, schwimmt auf dem Strom der Zeit weithin sichtbar obenauf – und wird bald zu Tale geschwemmt sein. Was Gewicht hat, ruht still auf dem Grund und wartet seine Zeit.

Ein zweiter Grund zur Hoffnung ergibt sich aus der Radikalität und Schnelligkeit der Veränderungen, die unsere Jahrhunderte zu kennzeichnen scheint. Beständigkeit ist selten, Veränderung rasch und häufig. Schon 1860 konnte sich wohl kaum jemand vorstellen, wie die politische Gestalt der Deutschen nur zehn Jahre später, 1870, aussehen würde. 1910 war das Deutschland von 1920, gedemütigt und hungernd, fast undenkbar. 1930 war das triumphierende Deutschland von 1950 fast unvorstellbar – ebenso wie 1950 das heutige Deutschland. Das macht es unwahrscheinlich, daß das Deutschland von 2000 das Ende der Entwicklung darstellt.

Damit zum wichtigsten Anlaß zur Hoffnung. Wir dürfen ihn ableiten aus dem Jahr 1989. Kaum jemand außer den DDR-Deutschen und vielen namenlosen, politisch kaum vertretenen Westdeutschen wollte damals die Wiedervereinigung. Rußland und die USA waren bereit, sie in Kauf zu nehmen. Unsere "Freunde", wie die Sprachregelung sie nennt, also Frankreich, England, Polen und viele andere, waren in Wahrheit entsetzt; sie befürworteten gern und häufig sowie lautstark die politische Selbstbestimmung fernster Völker, aber um Himmelswillen nicht die der deutschen Freunde. Natürlich wollte auch die DDR-Regierung keine Wiedervereinigung. Über die Haltung der Bonner politischen Klasse, also der meisten westdeutschen Politiker, Journalisten, Intellektuellen und Künstler, sollte man besser schweigen. Denoch hat das deutsche Volk seine politische Einheit gewonnen – gegen das Mißfallen fast der gesamten Welt und gegen die Interesselosigkeit sowie oft genug gegen den Willen der eigenen "Elite" in Ost und West. Weniges in der Geschichte kommt dieser Leistung gleich. Mithin gibt es auch wenig, das so deutlich bezeugt, daß das deutsche Volk gesund ist.

 

Dr. Franz Uhle-Wettler, Generalleutnant a.D., war Kommandeur einer Panzerdivision der Bundeswehr und bis1987 der NATO-Verteidigungsakademie in Rom. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter militärgeschichtliche Werke sowie Biographien von Erich Ludendorff und Alfred von Tirpitz. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Die Überwindung der Canossa-Republik".


 
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