© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/00 15. September 2000

 
Vollstrecker und Opfer sowjetischen Terrors
Der Reemtsma-Kritiker Bogdan Musial fragt nach dem Einfluß der NKWD-Verbrechen auf die deutsche Kriegführung im Osten
Jessica Rohrer

Manchmal fragt man sich, was unsere Zeithistoriker den lieben langen Tag denn so tun. Daß sie sich nicht mit der Geschichte der Vertreibung beschäftigen, wissen wir seit der glänzenden Philippika, die Herbert Ammon gegen ihr Versagen auf diesem Felde gerichtet hat. Daß nicht ein etablierter deutscher Zeithistoriker, sondern der Russe Viktor Suworov die Diskussion über die Einschätzung von Hitlers Feldzug gegen die Sowjetunion anstieß, ist hinlänglich bekannt. Das "Schwarzbuch des Kommunismus" gab der französische Historiker Stéphane Courtois heraus. Und selbst dort, wo es um die gewöhnlich große Anziehungskraft ausübende Erforschung deutscher "Schuld" und die Anklage deutscher "Täter" geht, scheinen – mit Produktionen recht unterschiedlicher Qualität freilich – Historiker und Politikwissenschaftler aus dem angelsächsischen Raum wie Daniel J. Goldhagen oder Christopher Browning die Nase vorn zu haben. Daß von dort auch die jüngste, nämlich Ian Kershaws Mammutbiographie Adolf Hitlers kommt, überrascht ebensowenig wie die Tatsache, daß sich mit Peter Novick und Norman Finkelstein zwei anglojüdische Wissenschaftler mit der Geschichte, Soziologie und Politik der großen zionistischen Organisationen in den USA befassen.Da die Karten nun einmal so verteilt sind, wundert es auch nicht, wenn Jan Ph. Reemtsmas Anti-Wehrmachtsschau durch Bogdan Musial und Krisztián Ungváry, einen polnischen und einen ungarischen Nachwuchshistoriker, zu Fall gebracht wurde, nachdem die meisten deutschen Fachkoryphäen entweder lauthals ihre Zustimmung bekundet oder opportunistisch geschwiegen hatten.

Bogdan Musials Kritik an den Falschzuschreibungen jener Ausstellungsfotos, die Verbrechen des sowjetischen Sicherheitsdienstes NKWD manipulatorisch der Wehrmacht anlasten, entsprang einer größeren, in Kurzfassung zunächst in der FAZ (Ausgabe vom 30. Oktober 1999) publizierten Studie über die ersten Wochen des "Unternehmens Barbarossa" im seit 1939 sowjetisch besetzten Ostpolen, die – erst seit einigen Wochen im Buchhandel – bereits heftigste Polemik provoziert (siehe JF 37/00).

Musial, ehemaliger Solidarnosc-Aktivist, der 1985 in der BRD Asyl beantragte, hier sein Studium absolvierte und heute im Deutschen Historischen Institut in Warschau tätig ist, überprüft eine naheliegende, unter "Zunft"-Kollegen aber tabuisierte Hypothese: Haben die NKWD-Verbrechen, mit denen die Wehrmacht in den ersten Wochen des Rußlandfeldzuges konfrontiert wurde, zur Brutalisierung des Ostkrieges beigetragen? Ihren für den Rezensenten der Reemtsma in Nibelungentreue verbundenen Süddeutschen Zeitung (SZ) eigentlichen Skandal offenbare diese Frage aber erst, wenn Musial behaupte, daß "relativ viele Milizangehörige,NKWD-Informanten und Denunzianten, die sich aktiv und zumeist freiwillig an sowjetischen Verbrechen beteiligten, jüdischer Herkunft waren", wie er ebenso politisch inkorrekt darauf beharre, daß im sowjetischen Staats-, Verwaltungs-und Wirtschaftsapparat relativ viele Juden tätig waren. Aufgrund dieser Befunde müssen die 20 bis 30.000 Menschen, die den gleich nach Kriegsausbruch in Moskau angeordneten Massenmorden an politischen Häftlingen (Polen, Ukrainern, aber auch jüdischen "Kapitalisten") allein in den Gefängnissen Ostpolens und der Westukraine zum Opfer fielen, zwangsläufig auf das Konto auch jüdischer Täter gehen. Dafür, für die Präsentation jüdischer Täter, so das SZ-Lamento, werde Musial "von rechten Zeitgenossen" Beifall erhalten, zumal seiner Reemtsma-Demontage schon "von ganz weit rechts" applaudiert worden sei (SZ vom 26./27.8.).

Die Rede von den jüdischen Tätern ist hierzulande immer für publizistische Aufwallungen gut. Das hat Sonja Margolina, selbst Tochter eines jüdischen KPdSU-Kaders, 1992 erfahren, als ihr der politische Pädagoge Micha Brumlik ihre immerhin im Siedler Verlag erschienenen kritischen Reflexionen über den jüdischen Anteil am leninistisch-stalinischen Terror mit der haßerfüllten Anklage quittierte, sie verfahre nach dem "Muster rechtsextremer Desinformation" (Babylon, Heft 10-11/1992). Fernab solch muffig-provinziellen Zensurgeistes haben die russischen Historiker Nikita Petrow und Konstantin Skorkin in einem Handbuch über den NKWD, das den "Grund für eine Täterforschung des Stalinismus" legt (so Markus Wehner in seiner Rezension in der FAZ vom 30. März 2000) inzwischen penibel bilanziert, daß 1934, vor den großen "Säuberungen", "die Vormachtstellung der Juden im Geheimdienst" noch ungebrochen war: "Der russische Volksmythos vom ‚jüdischen NKWD‘ hatte also einen realen Bezug" (Wehner).

Anhand von polnischen Archivmaterialien, der Auswertung der zeitgenössischen Presse und Zeitzeugenbefragungen vermag Musial erstmals ein detailliertes Bild von den Auswirkungen der zwischen September 1939 und Juni 1941 währenden sowjetischen, vom NKWD-Apparat exekutierten, von Teilen der autochthonen jüdischen Bevölkerung unterstützten Besatzungspolitik in Ostpolen geben und das "Anwachsen antijüdischer und antisowjetischer Stimmungen" sowie die "Festigung des Stereotyps der Judeo-Kommune" bele- gen.Musial beschreibt die primär gegen Polen und ukrainische Nationalisten gerichtete Unterdrückung, erwähnt die Deportationen nach Sibirien und widmet sich en detail – bis hin zu den Verhörmethoden – den Zuständen in den NKWD-Gefängnissen, wo es schließlich nach dem 22. Juni in Lemberg, Luck, Dubno, Tarnopol und mehreren kleinen Orten zu Massenerschiessungen der Insassen kam. Die "Leichenberge", die nach dem von den Einheimischen "freudig" begrüßten deutschen Einmarsch entdeckt wurden, führten dann zu deutscherseits geduldeten antisowjetischen Pogromen, die, wie Musial nachweist, stets auch antijüdisch motiviert waren. Selbst bei den Operationen der SD-Einsatzgruppen sei partiell nachweisbar, daß ihre Erschießungsaktionen erst unter dem Eindruck der Juden kollektiv angelasteten Greuel ausuferten.

Leider weicht Musial einer klaren Antwort auf seine Ausgangfrage nach dem reaktiven Charakter der deutschen Kriegführung aus. Zwar fördert er zahlreiche Fakten zum Beleg "jüdischerTäterschaft" auf sowjetischer Seite zutage, doch relativiert und konterkariert er dies kontinuierlich mit Ausführungen über deren "propagandistische Instrumentalisierung" und Übertreibung, was schließlich sogar in dem Diktum mündet: "Juden als Opfer des sowjetischen Terrors waren eher repräsentativ für die jüdische Bevölkerung als Täter jüdischer Herkunft."

Dieses letztlich widersprüchliche Arrangement seiner Forschungen ist Musials Pionierleistung vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten, infolge Tabuisierung entstandenen Desiderate aber kaum anzulasten.

 

Bogdan Musial: "Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen". Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941. Propyläen Verlag, Berlin 2000, 351 Seiten, Abb., 44 Mark


 
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