© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000

 
Pankraz,
H.–G. Gadamer und der Verlust der Mütterlichkeit

Großartig findet Pankraz, mit welcher Vehemenz und Eindringlichkeit Hans-Georg Gadamer in seinen letzten Gesprächen immer wieder den "Verlust des Muttertums" beklagt, der "Mutterschaft", der "Mütterlichkeit". Einem Sechzigjährigen oder Dreißigjährigen würde man solche Worte nicht unbehöhnt durchgehen lassen. Bei einer hundertjährigen Seher- und Weisheitsinstanz wie Gadamer hilft nur schweigendes Darüberhinweggehen.

Aber der Alte vom Heidelberge läßt sich‘s nicht verdrießen. All die "modernen", frechen, spitznasigen Medienweiber, findet er, die den Jungen mit ihrem Hintern vor der Nase herumwackeln, doch ums Verrecken keine Kinder mehr kriegen wollen, jedenfalls keine mehr austragen, höchstens ("höchstens") ein Baby aus Kolumbien oder Sri Lanka adoptieren, legen die Axt an die Wurzeln der menschlichen Kultur, nicht nur der nationalen, sondern der Kultur überhaupt. Ein Gemeinwesen ohne wahre Mutterschaft sei gar kein wirkliches Gemeinwesen mehr, es sei ein Fremdkörper im Reigen des Lebens, ein Infektionsherd, von dem Tod und Verderben ausgingen.

Starke Worte zweifellos, vor allem, wenn man an die neuen Möglichkeiten der biologischen Reproduktionstechnik denkt. Liegen in den Spezialkliniken nicht längst die künstlichen Gebärmütter aus Gummi bereit, um maßgeschneiderte Klone aufzunehmen und problemlos zur Geburtsreife zu bringen? Zeigen nicht auch die vielen menschlichen "Leihmütter", daß die Rede von der angeblich unverbrüchlichen, lebenslangen Verbundenheit, die sich während der natürlichen Schwangerschaft herstelle, ein Mythos ist? Wann hat denn je eine solche Leihmutter löwenhaft um das von ihr ausgetragene Kind gekämpft, statt sich mit dem vorher ausgemachten Honorar still und leise in die Büsche zu schlagen?

Richtet sich Mütterlichkeit unbedingt und exklusiv auf den eigenen Keimling? Ist sie nicht vielmehr ein zwar von Hormonen gesteuertes, aber grundsätzlich frei flotierendes Gefühl, das die Gesellschaft auch jenseits der Familien wie ein wärmender Wind durchzieht und dessen gesamtsoziale Kraft und humanisierende Nützlichkeit sich gerade erst dann richtig entfaltet, wenn sich die Frauen vom ewigen Blick auf die eigene Brut freimachen? Erleben wir nicht – im Gegensatz zu den Behauptungen von Gadamer – im Zuge des Feminismus eine explosionsartige Ausweitung von Mütterlichkeit?

Für solches Argumentieren hat Gadamer nur ein Achselzucken. Und tatsächlich ist ja von "neuer Mütterlichkeit" in unserer Erfolgs- und Geldgesellschaft nichts zu spüren. Als Vorbild dominiert eindeutig die "coole" Erfolgs- und Geldfrau, die nicht im geringsten daran interessiert ist, eine mütterliche oder auch nur betont frauliche Welt vorzuführen und zur Geltung zu bringen, die statt dessen voll in die Männerwelt eingestiegen ist und nur noch alles "besser" als die Männer machen will, bis hin zum Sumo-Ringkampf und zum kommissarischen Tritt in die Leistengegend.

Zaghafte Ansätze hin und wieder in der Feministinnen-Presse, einen um "Neue Mütterlichkeit" gruppierten Wertekanon ins Gespräch zu bringen, wurden von den Herausgeberinnen regelmäßig mit Spott überschüttet und abgewürgt. Schwangerschaft und Stillphase gelten in diesen Zeitschriften überwiegend als Schmach und Behinderung, als eine Zeit, in der das Geldverdienen nicht mehr so flutscht wie sonst und die der Staat deshalb subventionieren muß wie einen notleidenden Industriezweig. Die neuen biologischen Reproduktionstechniken werden einhellig begrüßt, nicht zuletzt deshalb, weil durch sie die Männer, diese "grundsätzlichen Schweine", für die Fortpflanzung "überflüssig" werden.

Manchmal wird als Generalutopie ein Amazonenstaat an die Wand gemalt, in dem (junge, hübsche) Männer nur noch als Lustobjekte zugelassen sind und die Amazonen voll deren übrige Funktionen übernommen haben, so daß für Mutterschaft gar keine Zeit mehr bleibt und auch die spezifische Weiblichkeit immer mehr verblaßt. Das ist genau das, was der alte Gadamer fürchtet: die Eliminierung der Weiblichkeit im Namen der Weiblichkeit, die totale Vermännlichung der Welt durch Abschaffung der Männer.

Wir mögen noch weit von dieser Horrorvision entfernt sein, aber der Weg dahin ist in der westlichen, europäisch-amerikanischen Welt (dem "christlichen Abendland") bereits eingeschlagen, das läßt sich schwerlich leugnen. Andere Kulturen in östlichen Ländern sehen das sehr genau, und es liefert ihnen den Vorwand, die sogenannte Emanzipation der Frau sehr zögerlich anzugehen, wobei gerade bestimmte gelehrte Vertreterinnen der Mütterlichkeit in diesen Ländern zur Vorsicht mahnen.

Sie berufen sich dabei (wie übrigens gelegentlich auch Gadamer) interessanterweise gern auf einen notorischen Vertreter der europäischen Aufklärung: auf keinen geringeren als Jean-Jacques Rousseau, der in seinem berühmten, epochemachenden Bildungsroman "Emile" schon vor zweihundertfünfzig Jahren mit wahren Engelszungen vor dem Verlust der Mütterlichkeit warnte. Zitat Rousseau:

"Noch nicht zufrieden damit, daß sie ihre Kinder nicht mehr stillen, gehen die Frauen jetzt sogar so weit, gar keine Kinder mehr zu bekommen ... Da sehen wir das Schicksal, das Europa bevorsteht. Die Wissenschaften, die Künste, die Philosophie, die Moral – sie werden absterben. Die Frauen, die keine Mütter mehr sein wollen, werden Europa in eine Wüste verwandeln."

Ein russisches Sprichwort sagt: "Was der Mutter ans Herz geht, das geht dem Vater höchstens bis ans Knie." Wenn schon der Vater Rousseau, der alle seine fünf Kinder kalten Blutes (?) ins Waisenhaus gab, so bewegende Worte über die Mütterlichkeit fand, wie mag dann erst den Müttern selbst, auch den Müttern von heute, zumute sein? Vielleicht brauchen sie nur Artikulationshilfe? Sie sollten gut zuhören, wenn nicht dem Rousseau und nicht dem Gadamer, so doch wenigstens den weisen Frauen von Sanaa.


 
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