© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000

 
Vorsicht: Baustelle Europa
Völker haften für ihre Regierungen – warnen liberalkonservative Publizisten
Frank Philip

D ie EU befindet sich am Scheideweg: Entwickelt sie sich zu einer bürokratischen Riesenkrake und lähmt den Kontinent, oder nimmt sie die wünschenswerte Rolle des ehrlichen Maklers zwischen selbstbewußten Nationen ein? Es häuften sich zuletzt die Klagen über den Italiener Romano Prodi, der nach dem unrühmlichen Ende der letzten Kommission den Vorsitz der neuen übernommen hat. Er hat viel versprochen und bislang wenig gehalten. Hinter vorgehaltener Hand sagt mancher Kenner, noch nie in ihrer Geschichte habe die Union allen optimistischen Sonntagsreden zum Trotz so nah am Abgrund gestanden.

In seiner Grundsatzrede zur Zukunft der europäischen Einigung führte Bundesaußenminister Fischer aus: "Es ist absehbar, daß die Europäische Union am Ende des Erweiterungsprozesses 27, 30 oder mehr Mitglieder zählen wird". Die im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien konnten oder wollten der zentralistischen Tendenz des Außenministers substantiell nichts entgegensetzen. Dieser Aufgabe gestellt haben sich nun Autoren der "Stimme der Mehrheit", ein Zusammenschluß liberaler und konservativer Publizisten unter dem Dach der Mittelstandsvereinigung "Bund der Selbständigen" (BdS).

In dem Sammelband "Keine Experimente. Europäische Fallstricke" diskutieren profilierte Autoren wie Bruno Bandulet, Wilfried Böhm, Eberhard Hamer, Hans-Helmuth Knütter, Gerd Schultze-Rhonhof, Franz W. Seidler und andere Chancen und Risiken der EU. Sie nehmen zu den brisanten Themen des Einigungsprozesses Stellung – oder auch nicht. Das Buch teilt die Schwäche vieler Sammelbände, die sowohl inhaltlich wie auch formal oft ziemlich heterogen sind. Es ist fruchtbar, wenn kontrovers diskutiert wird, in diesem Fall jedoch schmälert eine befremdliche Einleitung von Willi-Peter Sick, dem BdS-Ehrenvorsitzenden, gleich zu Anfang das Lesevergnügen. Was soll in einem Sammelband, dessen Autoren sich vehement gegen die Auflösung der Nationalstaaten aussprechen, ein Wischi-Waschi-Vorwort mit der Aussage: "Gewiß, zum Preis, den Deutschland für die europäische Vereinigung zahlen muß, gehört unter anderem die Abschaffung der Nation. Aber ist das so schlimm?"

Das Buch bemüht sich, möglichst alle Aspekte der Europapolitik abzudecken, und meidet doch das heißeste Eisen: die EU-Ostererweiterung. Übereilt durchgeführt, könnte sich die Aufnahme von bis zu zehn mittel- und osteuropäischen strukturschwachen Volkswirtschaften nicht nur als "Fallstrick", sondern als Galgenstrick Europas erweisen. Seltsamerweise ist dieser Thematik kein eigener, ausführlicher Beitrag gewidmet. Nur am Rande bemerkt der Wirtschaftswissenschaftler Eberhard Hamer, Deutschlands Ostgrenze könne wegen des starken Lohngefälles zu einem "Hundert-Kilometer-Todesstreifen" mittelständischer Unternehmen mit Millionen Arbeitslosen werden, während "die europäische und amerikanische Großwirtschaft den polnischen Markt erobern könnten".Nach Ansicht des Mittelstandsexperten dient die europäische Einigung vor allem Interessen der Hochfinanz. Nicht zu unterschätzen sei bei der langfristig angestrebten Aufnahme selbst der asiatischen Türkei eine drängende Einflußnahme der Amerikaner, die er in einem eigenen Kapitel "Türkei, Israel, USA - und ein Ziel" behandelt.

Ebenfalls spannend liest sich die Analyse der "ersten Gehversuche des Euro" des Finanzanalysten Bruno Bandulet. Nicht mit Häme, sondern mit ehrlicher Sorge verfolgt der EWU-Kritiker den Verfall der jungen Kunstwährung, deren Ruf bereits schwer geschädigt ist. In weite Ferne ist nun das Ziel der Euro-Optimisten gerückt, das Gemeinschaftsgeld als starke Konkurrenz zum US-Dollar zu etablieren. Auch alle mit dem Status einer Reservewährung verbundenen Vorteile genießen weiterhin nur die USA: Seit Jahren ist die Leistungsbilanz unausgeglichen, doch sie haben einen free lunch. Als Emittenten des Weltgeldes können die USA sich zu Nullzinsen bei den Armen dieser Welt verschulden.

Einige Beiträge des Sammelbandes heben sich sonderbar ab: Arnd Klein-Zirbes verspricht, die öffentliche Meinung über Europa zu untersuchen, betreibt dann aber Medienschelte. Bei den laufenden (Korruptions-)Skandalen der Brüsseler Behörden sollte sich unser Mitleid doch in Grenzen halten, wenn diese von der Presse ausnahmsweise einmal zu unrecht angegriffen wurden. In seinem informativen und engagierten Artikel über den Filz der Eurokratie hat BdS-Geschäftsführer Joachim Schäfer Dutzende haarsträubender Beispiele für Mißwirtschaft aufgelistet. Hätte sich Klein-Zirbes hier kundig gemacht, wie unsere Milliarden verschleudert werden, sein Mitgefühl für die "arme Kommission" wäre abgekühlt.

Schäfer listet eine ganz Reihe zum Teil wichtiger Reformvorschläge auf, um die EU transparenter, effizienter und gerechter zu gestalten. Für eine faire Aufteilung der Kosten sollte sich die zukünftige Finanzierung am Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf orientieren, meint Schäfer, und nicht am BSP insgesamt, wie es angeblich bislang der Fall sei. Das ist nur teilweise korrekt: Vor langer Zeit wurde einmal ein am BSP orienterter Beitragsschlüssel aufgestellt, durch fast erpresserisches Verhandeln konnten aber etwa die Briten ihre Abgaben massiv drücken, andere haben bei der Verteilung der Gelder besonders laut geschrieen. Nicht die Bruttosummen sind also entscheidend, sondern die Verteilung der Nettolast. Hier wird Deutschland benachteiligt.

In einem Punkt irrt Schäfer gewaltig. Er schreibt: "Wäre zum Beispiel Indien Mitglied der EU, so hätte es die höchsten Beiträge zu zahlen, weil eine Milliarde Menschen allemal mehr produzieren als 80 Millionen." Das ist falsch! Die Milliarde Inder kommt nominal nur auf ein Zehntel der deutschen jährlichen Wertschöpfung, real auf etwas mehr. Gerade bei dem sensiblen Punkt der Nettobelastung Deutschlands sei eine sorgfältigere Recherche und Argumentation angemahnt! Zu loben sind indes eine faktenreiche Analyse der Zuwanderung nach Europa und ihrer Konsequenzen von Eckard Nickig sowie eine originelle Betrachtung des Binnenmarkts und seiner Profiteure von Ronald Schroeder. Dieser stellt einen neuartigen Preis-Leistungs-Vergleich aus deutscher Sicht auf. Dabei kommt er zu dem Schluß, vor allem Frankreich verstehe es meisterhaft, die EU als Melkkuh für nationale Interessen zu nutzen. Deutschland aber dürfe auch den außereuropäischen Markt nicht vernachlässigen.

Wer von den Ausgaben spricht, sollte die Landwirtschaft als Subventionsmassengrab (etwa 50 Milliarden Euro pro Jahr) nicht unerwähnt lassen. Im ganzen Sammelband fehlen Anmerkungen zur bisherigen irrwitzigen Politik der EU, mit garantierten Mindestpreisen die Bauern zur Überproduktion anzuregen, die überschüssigen Erzeugnisse anschließend mit enormen Kosten zu vernichten oder auf dem Weltmarkt zu verschleudern (was die Landwirtschaft der Dritten Welt ruiniert). Und das erklärte Ziel dieser EU-Politik, nämlich den darbenden Kleinbauern und ihren Familien ein Auskommen zu sichern, wird obendrein nicht erreicht, weil hauptsächlich größere Betriebe die Subventionen abschöpfen!

Insgesamt betrachtet enthält das Buch einige interessante Anregungen und neue Informationen, doch als den "großen Wurf" der konservativen EU-Kritik kann man es noch nicht bezeichnen.

 

Joachim Schäfer (Hrsg.): Keine Experimente. Europäische Fallstricke, Stimme der Mehrheit. Universitas, München 2000, 293 Seiten, 38 Mark


 
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