© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/00 22. September 2000

 
Im Wettstreit der Gedächtnisse
Israels Historiker nehmen Abschied von zionistischen Mythen und privatisieren die Erinnerung
Irene Casparius

Die Umwertung aller Werte hat Israel erreicht. Ablesbar ist sie am wachsenden Unbehagen an der staatlich verordneten Erinnerung. Die zionistische Gedenkkultur verliert an Bindekraft. Uri Ram, Sozialpsychologe an der Ben Gurion Universität des Negev, weiß von dem Helden eines 1995 in Tel-Aviv uraufgeführten Theaterstückes zu berichten, der die Museen, die Stätten der Verewigung des Zionismus, schleife und in Yad Vashem das "ewige Licht" lösche. Er rufe die Kinder dazu auf, sich vor Museen zu hüten und die Ohren zu verschließen, wenn man sie zu Schlachtorten oder Vernichtungslagern führe, und befehle ihnen, die Verbrechen der Vergangenheit zu vergessen, sich dem Leben der Zukunft zu widmen und – "einfach Fußball (zu) spielen".

Ein solches Theaterstück ist für Ram nur eines von vielen Symptomen dafür, daß sich in Israel die Vergangenheitsauffassung zu verändern beginnt. Das schärfste Relief prägt dieser Bewußtseinswandel seit fast zehn Jahren in den Debatten israelischer Historiker aus. Gegen die institutionell etablierte, quasi offiziöse zionistische Historiographie bringt sich eine postzionistische "Neue Historiographie" in Stellung. Ihre Exponenten, die sich als "revisionistische Schule" verstehen, attackieren mit nicht geringem "aufklärerischem" Pathos die Axiome ihrer Gegner als ideologische Verbrämung und politische Manipulation im Dienst der zionistischen bzw. groß-israelischen Machtpolitik. Das akademische Establishment, so argumentieren die Postzionisten, pflege den Gründungsmythos des Unabhängigkeitskrieges von 1948, verdränge aber das Schicksal der Palästinenser. Es sei nicht angebracht, die Erfolgsgeschichte des Zionismus zu isoliert von der Geschichte des ganzen Landes und seiner Bewohner zu schreiben, und man könne deshalb nicht über die jüdische Staatsgründung sprechen "losgelöst von der Zerstörung der arabisch-palästinensischen Existenz", denn die jüdische Ansiedlung, die den Status der Mehrheit anstrebte und erlangte, erreichte ihr Ziel "durch Entfernung und Vertreibung der Bevölkerung des Landes" (Amnon Raz-Krakotzkin).

Der "Araberfrage" hatte die zionistische Bewegung schon zu Zeiten Theodor Herzls, der Palästina für ein "leeres Land" hielt, kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Als man sich nach den ersten Ansiedlungsprojekten vor 1914 eines Besseren belehren lassen mußte, verfielen Zionisten auf die Rechtfertigung, "asiatischen" Völkern die "Errungenschaften der europäischen Zivilisation" bringen und "Vorpostendienst gegen die Barbarei" leisten zu wollen. In den zwanziger und dreißiger Jahren, als sich die Konflikte verschärften, hieß es bereits ohne jede Verbrämung, daß die Landnahme durch Einwanderung dazu führen müsse, die arabischen Autochthonen durch Juden zu ersetzen: "Selbst die jüdische Arbeiterbewegung war nicht bereit, ihre nationaljüdischen Interessen der Klassensolidarität (mit palästinensischen Arbeitern) unterzuordnen." (So Julius H. Schoeps in seiner Einleitung zu der immer noch nützlichen Textsammlung: "Zionismus", München 1973). So mußte der Kampf um die "nationale Wiedergeburt" 1948 alternativlos zur militärischen Durchsetzung eines jüdischen Staates führen. Der israelische Historiker Avi Shlaim ("The Iron Wall. Israel and the Arab World", New York/London 2000) hat soeben präzise dargelegt, wie diese im Vertrauen auf militärische Stärke gegründete zionistische Wagenburg-Mentalität – entgegen alle retrospektiven Stilisierungen des um Frieden mit seinen Nachbarn bemühten jüdischen Staates – auf die latente "totale Mobilmachung" der eigenen Bevölkerung, Abschreckung, Konfrontation, Drohung und gelegentliche Provokation der arabischen Nationen setzte.

Shlaims Geschichtsrevision fügt sich nahtlos ein in die – freilich polemischer artikulierten – Thesen der "neuen Historiker". Thematisieren sie doch die lange vom zionistischen Establishment verschleierten Siedlungsmethoden der Zwischenkriegszeit, die ethnozentrischen, ja "völkischen" Fixierungen der Generation Ben-Gurions, die mit ethnischen Säuberungen bezahlte Staatsgründung im Jahre 1948, die außenpolitischen Aggressionen bis zur Besetzung des Süd-Libanons, die nach fast zwanzig Jahren erst in unseren Tagen ein Ende fand.

Gefährlicher als diese oder jene "Aufklärung" über "dunkle Kapitel" in der Geschichte des Zionismus dürfte jedoch die relativierende Kraft sein, die von solchen Dekonstruktionen ausgeht. Daniel Gutwein, in Haifa lehrender Professor für Jüdische Geschichte, sieht hier gar einen "totalen Relativismus" heraufziehen, der das dominierende "zionistische Narrativ" zersetze. An die Stelle dieser betonierten kollektiven Erinnerung trete dann eine Vielzahl von Geschichtsbildern, so daß die israelische Historiographie bald einem "Kampfplatz gegensätzlicher Gedächtnisse" gleichen werde. Diese von den "neuen Historikern" angestoßene "Privatisierung des Gedächtnisses", so Gutwein, spiegele den Gesamtprozeß der vom zionistischen Pionier-Ethos Abschied nehmenden, die Wertmaßstäbe tiefgehend verändernden Privatisierung wider, der die israelische Gesellschaft, Wirtschaft, politik und Rechtsprechung kennzeichne – "ein Prozeß, der parallell zum Friedensprozeß seit dem Yom Kippur-Krieg durch den Libanon-Krieg und die Intifada immer stärker wurde".

 

Barbara Schäfer (Hg.): Historikerstreit in Israel. Die "neuen" Historiker zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2000, 283 Seiten, 68 Mark


 
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